: „Luca ist ein Kämpfer, er will leben“
30 bis 50 Berliner Kinder müssen wegen Hirnschädigungen oder Muskelerkrankungen ständig beatmet werden. In dem Verein „Intensivkinder zuhause“ haben sich Eltern zusammengeschlossen, die ihre Kinder dennoch nicht in der Klinik lassen wollen
von CHRISTINE SCHMITT
Zärtlich streicht Andrea M. ihrem Sohn durch seine dunklen Haare. „Wir sind eine ganz normale Familie“, sagt die 29-Jährige, während sie sich überlegt, ob sie ihren vierjährigen Sohn absaugen muss. Sie muss. Vorsichtig nimmt sie einen dünnen Schlauch in die Hand und befreit Mund und Nase des Jungen von Schleim. Seit seinem achten Lebensmonat wird Luca beatmet – eigentlich müsste er im Krankenhaus auf der Intensivstation leben, aber seine Eltern haben die Intensivstation nach Hause ins Kinderzimmer verlegt. „Uns war immer klar, dass wir Luca – sobald er stabil ist – mit nach Hause nehmen würden“, sagen die Eltern. Sie wollten schließlich mit ihrem Sohn zusammenleben. Die Ärzte waren damals irritiert, schließlich sei Luca das erste beatmete Kind eines Berliner Klinikums gewesen, das nach Hause entlassen wurde.
In Berlin werden etwa 30 bis 50 Kinder und Jugendliche in Kliniken oder zu Hause dauerbeatmet, schätzt Sebastian Buttenberg, Oberarzt der Kinderklinik Lindenhof. Aber das sei nur eine „grobe Schätzung“, so der Mediziner, der derzeit stationär sechs dauerbeatmete Kinder betreut. Dazu kämen noch zahlreiche Kinder, die zum Überleben Sauerstoff brauchen, so Juta Petersen-Müller, die von der Gründung des überregionalen Elternvereins „Intensivkinder zuhause“ hörte und daraufhin dessen Berliner Regionalgruppe aufbaute. Bundesweit seien etwa 50 Mütter und Väter bereits Mitglieder geworden. Ihre Kinder leiden an Hirnschädigungen, Muskelerkrankungen oder sind Komapatienten, die nur mit einem Beatmungsgerät überleben können. Manche müssen nur nachts an die Geräte angeschlossen werden, einigen reicht eine Sauerstoffbrille. Viele Kinder seien trotz schwerer Krankheit normal intelligent, betont Petersen-Müller. Aber ein Schulbesuch werde ihnen wegen des medizinischen Aufwands oft verwehrt.
Luca liebt Hörspielkassetten. „Sein Favorit ist Benjamin Blümchen“, erzählen die Eltern. Er badet gerne, er mag Trubel um sich – am liebsten Kinderstimmen. Und er genießt es, sich in seinem Rollstuhl mitsamt Monitor und Beatmungsgerät in der frischen Luft herumschieben zu lassen. „Ob es ihm gut geht, er sich ärgert oder freut – das kann ich an seinem Gesichtsausdruck und an den Werten des Monitors sehen“, sagt seine Mutter. Denn Luca kann weder sprechen noch sich bewegen, selbst seine Gesichtszüge werden schwächer. Er leidet an Muskelschwund.
Der heute Vierjährige kam gesund auf die Welt. Erst nach sechs Monate fiel auf, dass er krank war. „Er konnte sich schon drehen und war altersentsprechend entwickelt“, erinnert sich seine Mutter. Doch dann konnte er nicht mehr schlucken. Im Krankenhaus wurde ihm eine Magensonde gelegt, über die er seitdem ernährt wird. Seine Atemwege waren so verschleimt, dass er abgesaugt werden musste und schließlich im Krankenhaus auf die Intensivstation kam. Dort wurde, als sich herausstellte, dass er nie mehr in der Lage sein würde, allein zu atmen, ein Luftröhrenschnitt gemacht.
Ein halbes Jahr blieb er in der Klinik. „Das war ein ganz anderes Leben“, erzählt seine Mutter, die bei ihm war. Dann fanden die Eltern eine größere Wohnung, ließen sich in die Geräte einweisen, organisierten die Technik und Nachtschwestern und nahmen ihr Kind mit nach Hause. „Luca ist ein Kämpfer“, sagen seine Eltern. „Er will leben.“
„Wir haben kein schweres Leben, es ist nur anders“, sagt die 29-jährige Mutter. Es dauere alles etwas länger, aber alles sei machbar, meint der 33- jährige Vater. „Uns geht es gut“, sind sie sich einig. Aber sie können Luca nur zu Hause betreuen, weil sie Hilfe bekommen. Nachts wacht eine Kinderkrankenschwester an Lucas Bett. Für den Fall, dass ein Gerät ausfällt, seine Werte nicht in Ordnung sind oder es ihm schlecht gehen sollte. Insgesamt 16 Stunden in der Woche unterstützen zwei Einzelfallhelfer die Eltern. Täglich kommt eine Krankengymnastin, die – sehr zur Freude Lucas – öfter ihren achtjährigen Sohn mitbringt.
„Es hat auch mal eine schlechte Zeit gegeben, in der ich mich hauptsächlich von Kaffee ernährte“, sagt die Mutter. An die Diagnose ihres Sohnes hat sich die Familie mittlerweile gewöhnt. Heute sind sie glücklich mit Luca. „Manchmal stellen wir uns schon vor, wie es wäre, wenn er gesund wäre“, sagt der Vater. „Ich sage mir, dass es schön ist, dass Luca so stabil gesund ist, ich vergleiche ihn nicht mit anderen Kindern“, so die Mutter. „Wir führen das gleiche Leben wie Eltern mit gesunden Kindern.“ Nach wie vor gehen sie gerne – gemeinsam mit Luca – zum Italiener zum Essen. Ihre Freunde sind dieselben geblieben. Luca gehört einfach dazu.
Juta Petersen-Müller hat auch andere Erfahrungen gemacht. „Freunde brachten für unsere Tochter und unsere Situation kaum Verständnis auf“, sagt sie. Ihre Tochter Tessa-Kathleen war sauerstoffpflichtig. Wenn ein Besucher Schnupfen hatte, fürchtete Petersen-Müller, dass Tessa sich ansteckt und eine Lungenentzündung bekommen würde. Auch sie und ihr Mann hatten sich nach langem Krankenhausaufenthalt von Tessa-Kathleen entschieden, ihre Tochter mit nach Hause zu nehmen. „Wir mussten damals, drei Jahre ist es her, um alles kämpfen“, sagt die Mutter. Dass die Kinder von Pflegediensten, Nachtschwestern und Einzelfallhelfern betreut werden, sei heute glücklicherweise „fast normal“, obwohl es nicht immer bewilligt werde. Bei ihrer Tochter, die an einer seltenen Form einer Stoffwechselkrankheit litt, noch nicht. Tessa-Kathleen ist im Alter von 19 Monaten gestorben.
Wenn betroffene Eltern sich an den Verein wenden, sei ihre größte Angst, dass zu Hause etwas mit Kind und Geräten passieren könnte, berichtet Petersen-Müller. Aber auch die Gefahr, zu vereinsamen, sei groß. Wer bleibt von den Freunden übrig, wenn ein Kind schwer krank und auf Intensivpflege angewiesen ist? Ehen scheitern mitunter. Oft sei die Mutter mit ihrem Kind den ganzen Tag allein und traue sich kaum zu duschen, weil der Alarm des Überwachungsmonitors losgehen könnte. Viele fühlen sich allein auf der Welt und müssen mit der Trauer, der Angst und der Arbeit ganz allein zurechtkommen. „Unser Verein will betroffenen Eltern die Möglichkeit geben, über ihre Alltagsbewältigung, Entlastungsmöglichkeiten, über psychische und physische Probleme und ihre Rechte zu sprechen.“
Vereinsinfos: www.intensivkinder.deRegionalgruppe Berlin: Telefon (0 30) 45 49 38 69
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