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„Jeder ist anders“

Wozu Drogen nehmen, wenn man auch ein Praktikum beim Bäcker machen kann? Valeska Griesebachs Film „Mein Stern“ ist ein behutsames, aber sehr genaues Porträt von jugendlicher Liebe, das erstaunlich konservative Lebensgefühle sichtbar macht

von URS RICHTER

„Ich sterbe, wenn ich dich nicht sehe“, nuschelt Schöps in die fiepende Türsprechanlage. „Was? Kannst das noch mal sagen? Die Anlage spinnt“, tönt Nicoles Antwort aus dem Lautsprecher. Aber einen solchen Satz bringt Schöps nicht zweimal über die Lippen, da geht er lieber. Schöps und Nicole „sind zusammen“, sie sind 15 oder 16 und leben in Berlin.

Die kleine Szene markiert die Pole in „Mein Stern“: die überhöhte Rhetorik jugendlicher Liebe und die Verletzlichkeit, die diese Rhetorik besitzt. Durch einen unglücklichen Umstand oder eine falsche Bemerkung gerät sie ins Wanken, steht als peinliches Bekenntnis zwischen den Verliebten oder könnte mit drei Worten alles klar machen. „Ich liebe dich“, traut sich Nicole jedoch erst zu sagen, als Schöps neben ihr eingeschlafen ist.

Die Filmemacherin Valeska Griesebach nähert sich Nicole und Schöps nicht wohl wollend, sondern auf Augenhöhe. Nicht fordernd, sondern beobachtend. Und nie auf die Ausbeutung von Empfindungen ausgerichtet. Hier wird nicht gepöbelt und nicht wild geknutscht, um Gefühlsausbrüche vorzuweisen. Hier braucht niemand Slang zu sprechen oder ein Pfund Edelstahl in der Haut zu tragen, um ein Lebensgefühl zu illustrieren. Tattoos werden mit Edding aufgemalt. Griesebachs Figuren machen ein Praktikum bei Bäcker Kamps, „weil es gut riecht“, ihr Berufswunsch ist „Bürokaufmann oder Fliesenleger“.

Der Film meidet die thematischen Aufhänger, anhand derer üblicherweise über Jugend erzählt wird. „Mein Stern“ behandelt keine Drogenprobleme, keine Randgruppen, keine sozialen Härten. „Natürlich gibt es in einer Jugendwelt eine Menge gefährlicher Sachen, aber ich dachte, weil man so konditioniert ist als Kinozuschauer, will ich nicht in dieses Jugendgenre greifen, was dann Drogen usw. bedeutet. Mich interessiert das ganz Normale, Alltägliche. Ich wollte keinen Film machen über die Jugend im Jahr 2000, sondern einen zeitlosen und vielleicht auch altmodischen Moment erwischen“, beschreibt die Regisseurin ihre Absicht.

Tatsächlich ist man verblüfft, wie kleinbürgerlich die porträtierten Liebes- und Lebensentwürfe ausfallen. Schöps zieht nicht in eine WG mit Kumpels, sondern stolz in seine erste eigene Wohnung. Nicoles Schwester träumt vom Märchenprinzen, das N’Sync-Kopfkissen fest umarmt. Die Verliebten möchten „für immer“ zusammen sein. „Ich wollte zeigen, wie Jugendliche erwachsene Wege nachstellen, ob das nun in der Liebe ist oder sonstwo. Es hat mich sicher bei den Castings berührt, wie traditionell, man kann auch sagen konservativ, solche Glücksvorstellungen sind. Jetzt spreche ich über Dinge, von denen ich dann doch zu wenig weiß, aber ich könnte mir vorstellen, dass es mit 14 das Köstlichste und Bahnbrechendste ist, sich genau in diese ‚Erwachsenenwelt‘ reinzudenken und vielleicht mit 16 wieder ganz andere Träume zu entwickeln“, so Griesebach.

Konservativ oder nicht, selten wurden Träume und die Realität, der sie entwachsen, im deutschsprachigen Kino behutsamer dargestellt. Ein halbes Jahr lang suchte das Filmteam nach Darstellern und nutzte die Castings, um Jugendliche zu interviewen. Aus dieser Recherche wurden Situationen und Dialogzeilen übernommen, beim Dreh arbeitete Griesebach mit einer Mischung aus Improvisation und Vorgabe: „Zum einen pocht man sehr stark auf Form und weiß eine Menge über das, was man tut. Und auf der anderen Seite weiß man es auch nicht so genau. Es gab kein wirkliches Drehbuch, sondern einen Text, der zum Teil aussah wie ein Treatment. Es gab im vorhinein geschriebene Dialoge, und es gab Dialoge, in die die beiden Hauptdarsteller eine Menge von sich reingegeben haben, wo ich viel von ihnen geschenkt bekommen habe.“

So konzentriert „Mein Stern“ viel auf die Schauspieler, auf Nicole Gläsers stilles Modigliani-Antlitz, die Art, wie sie ihre Haare hinters Ohr streicht, den Discotanz, der ihrer ist. Und auf die vielen Gesichter, die in dem von Christopher Schöps zusammenfallen, sobald er das Mannsein probt und doch nicht durchhält. Aber es wäre falsch, hier dokumentarischen Eifer zu vermuten oder den Kampfbegriff Authentizität zu bemühen. Klug diszipliniert wahrt Griesebach die Entfernung zu den Darstellern, ganz buchstäblich. Porträtaufnahmen gibt es nur, wenn wir die Kluft zwischen verbalem und mimischem Ausdruck erkennen sollen. Im Übrigen bleibt die Kamera auf halber Distanz, haushälterisch fest und schwenkt nur, wenn es gar nicht anders geht.

Der Denkfaulheit, visuelle mit emotionaler Tuchfühlung gleichzusetzen, gibt Griesebach nicht nach. Das braucht sie nicht, sie beherrscht Zuhören und Zuhörenlassen. Nicole und Schöps sitzen am Tisch. Sie möchte etwas über seine Exfreundinnen erfahren. Wie die Letzte war, „anders als ich?“ – „Jeder ist anders“, zieht sich Schöps aus der Affäre. Und Nicole? Wie war es bei ihr? „Über wen willst du wissen, von 1 bis 15, darfst dir aussuchen.“ – „Dann nehm ich die goldene Mitte.“ – „Also, die goldene Mitte war 19, mittlerweile 20, und heißt Ronnie . . .“ Beim nächsten Treffen ist Schöps ungemütlich: „Irgendwas stimmt hier nicht.“ – „Was stimmt hier nicht?“ – „Irgendwie is det anders als sonst, voll verändert.“ – „Wie?“ –„Na, halt anders, nich so wie vorher.“ Was Schöps plagt und Nicole ahnt – wir glauben es genau zu kennen.

„Mein Stern“. Regie: Valeska Griesebach; mit Nicole Gläser und Christopher Schöps, D 2001, 65 Min.

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