: Mythos & Moderne
Neo Rauch wurde 1960 in Leipzig geboren. Sechs Wochen später kamen seine Eltern, die in Leipzig Kunst studierten, bei einem Zugunglück ums Leben. Rauch wuchs bei seinen Großeltern in Aschersleben (Harz) auf. Äußerlich fehlte es ihm an nichts. Gleichwohl legte sich der frühe Verlust als traumatischer Schatten über seine Biografie. 1981 bis 1986 studierte Rauch an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Arno Rinck, 1986 bis 1990 war er Meisterschüler bei Bernhard Heisig. Rauch lebt heute mit Frau und zehnjährigem Sohn in Leipzig.
Die Resonanz auf Rauchs Arbeiten ist in den letzten Jahren sprunghaft gewachsen. Er wird heute zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern in Deutschland gezählt. Im Jahr 2000 wurden Bilder von Rauch in New York in der David Zwirner Gallery gezeigt. 2001 folgte die Teilnahme an der Biennale Venedig, eine Ausstellung im Deutschen Guggenheim Berlin und die Werkschau „Randgebiet“ in München und Zürich. Mit seinem Galeristen Gerd Harry Lybke (Galerie Eigen + Art, Leipzig und Berlin) arbeitet Rauch seit 1993 zusammen.
Bei allem Sexappeal des jugendlichen Personals, einer genialischen Bildfindung und sicheren Handwerklichkeit präsentieren sich Rauchs Bilder stark verrätselt und unzugänglich. Die Szenerien erscheinen wie mit einem grellen Kunstaroma koloriert. Eine katatonische Starre zeichnet die Figuren, die sich in letzter Zeit zunehmend gegenständlich herausarbeiten. Mit kryptischem Mienenspiel erinnern sie an humanoide Replikanten, die mit rätselhaftem Pathos offensichtlich dekontextualisierten sinnlosen Tätigkeiten nachgehen.
In einer komplexen Bildarchitektur, in der zentralperspektivische Ansichten sich in Zweidimensionalität verlieren, meint man hier und da vertraute Bildelemente zu erkennen, die eingeknickten Hütchen von Angestellten eines Schnellimbisses, die Schutzbrille im Gesicht eines Laborarbeiters. Kanisterartige Objekte, Hebebühnen, Kräne, Kabel, Container, Reste von Begrünung könnten einmal vorstädtische Industriegebiete accessoriert haben.
Heute haftet derartigem Inventar etwas Untotes an. Die Szenarios nostalgisch zu nennen, verfehlt gleichwohl den Kern des Vortrags, der mit einer Grundierung des latent Lauernden die Bilder für jede Idylle unbrauchbar macht. Dabei artikulieren sich in Rauchs neueren Bildern zunehmend kulturgeschichtlich ältere Mythen. Bei einem Jäger mit Hut und Flinte vor einem zerborstenen Baumstamm ahnt man ein unheimliches nächtliches Treiben als Freischütz. Ein Fabelwesen, halb Anzugmann halb Zentaur, und ein wilder Geselle mit grünlich-pelzigem Gesicht setzen eine „unzivilisierte“ Vitalität ins Bild.
Hier sucht sich eine Befindlichkeit des Ausgeliefertseins an fremde Kräfte immer neue Gesichter. Das typisch Grelle gerät dabei zunehmend zu einer geschlossenen Ästhetik, die mit ihrer propagandistischen Ansage hypnotisiert und verstört. Modernität erscheint als loses Arrangement von Zeichen, das als fragiler Text den Kern der Dinge nur wie ein dünner Firniss überzieht.
Einzelausstellungen 2002: Bonnefantenmuseum, Maastricht, 2. Juni bis 30. September; Galerie Eigen + Art, Berlin, Dezember. Gruppenausstellungen 2002: Centre Pompidou, Paris, „Cher peintre, peins-moi“, 11. Juni bis 2. September; Museum of Modern Art, New York, „Eight Propositions in Contemporary Drawing“, 16. Oktober 2002 bis 7. Januar 2003. NIKE BREYER
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