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Jenseits des Gefrierpunkts

Wie Pinguine am Südpol stehen am eisigsten Tag des Jahres Bauarbeiter in der Sonne. Die gefrorenen Wassergräben am Potsdamer Platz wirken wie ein Schaukasten, hinter dem sich „objets trouvés“ verstecken. Ein Kältestück aus Berlin

von WALTRAUD SCHWAB

Anthrazit ist die Winterfarbe der Berliner und Berlinerinnen. Eingehüllt in Jacken, Mäntel, Mützen in jenem Nicht-ganz -Schwarz spiegeln sie die Farben des Winters in der Stadt: Grau, schmutzig und leidenschaftslos. Erst ein frostiges Hoch aus dem Osten wie „Alf“, ein Tag unter Null mit viel Sonne und Licht, bringt den wahren Charakter der Farbe an den Tag: Sie fängt die Wärme ein.

Wider das Gesetz der Bewegung macht die Kälte die Passanten in ihrem dunklen Outfit zu Stillstehern. Russische Bauarbeiter an der Ecke machen es vor. Wie Pinguine am Südpol stellen sie sich in ihren schmutzigen Arbeitsklamotten in die Sonne und wärmen sich auf. Wartende an der Bushaltestelle lernen von ihnen. Mit einer Entschlossenheit, die sie zu Rebellen macht, gesellen sie sich zu ihnen in die Sonne. Gegen jede Vernunft wird Kälte so zur Verführung und Eis wird zum Inbegriff frivoler Träumerei.

Nach der frostigsten Nacht dieses Winters in Berlin gibt es am Potsdamer Platz von beidem etwas, denn die Eisdecke der künstlichen Wassergräben hält den Mutigen stand. Die gefrorene Oberfläche wirkt wie ein Schaukasten, hinter dem sich die „objets trouvés“ verstecken: Schlackige Kieselsteine liegen als Kleinode in unerreichbarer Nähe. Dazu das Blinken zerbrochener CDs, Kronkorken, das festgefrorene Rot eines im Wasser zerfaserten Zettels und Accessoires der McDonald’s-Welt.

Das sich selbst erschaffende Environment macht einem Künstler wie Damian Hurst, der aufgeschnittene Kühe in Formaldehyd im Glaskasten ausstellt, Konkurrenz. Abstraktionen sind auf diesem zugefrorenen Wasser allerdings nicht nötig. „Hey Alter, da ist ja ein Fisch“, schreit einer aus einem Rudel mutiger Halbwüchsiger, die sich aufs Eis getraut haben, seinen Kumpels zu. „Wo?“ Schon kommen sie angeschlittert. Vorsichtig noch, aber als Rabauken. Ein Stein wird dahin geworfen, wo das Tier zu sehen war. Das Eis hält ihm stand. Die Kids suchen den Kitzel, den Ort, wo der hohle Klang eines Risses zu höheren Weihen verhilft. Das bringe Freude, meinen sie. Das Risiko gefalle ihnen. „Leider“, sagen sie selbst.

Wie schon an der Bushaltestelle gibt es auch hier eine Stillsteherin. Gegen die Sandsteinwand des Musical-Theaters gelehnt, lässt sie sich von der Sonne bescheinen. Ihr Blick ruht auf den goldenen Verzierungen der Rückseite des Weinhauses Huth. Rote Ohren, triefende Nasen, blau gefrorene Finger fegt winterliche Nostalgie dennoch nicht beiseite. Es mache die Not erst sichtbarer, sagt eine alte Berlinerin, die den Winter anfleht wegzugehen, als wäre er ein Angreifer, der ihr die Tasche rauben will. Wie um ihr Recht zu geben, hält der Stillstehende am Kranzlereck ein Schild vor sich hin in der Kälte. „Aids macht einsam“, steht darauf. Er hat sich abgewandt von der Sonne und harrt aus.

Der Bettelnde steht für das Repertoire der Schattenseiten aus der wirklichen Welt, die für Schlagzeilen sorgen: zugefrorene Wasserwege, die mit Eisbrechern frei gemacht werden, Ampelausfälle verursacht durch Kälte, Rohrbrüche sowie „Kältetote“. Es ist diese Aufzählung und die amtlichen Ratschläge, die aus Berlin eine wirkliche Großstadt machen.

So warnt die Polizei denn auch noch vor dem Betreten der Eisflächen. Eine Warung, die gegen die Verführung jedoch nicht ankommen wird. Im Tiergarten sind die Schlittschuhe und Hockeyschläger längst ausgepackt. Dazu gibt es Flamingos, Eisbären und Elefanten. Sie sind die Stillsteher in der Wintersonne im Zoo.

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