: Werk, Mann, Werk!
Unser Mann in Havanna, Berlin und Lichtenrade, unser Mann im Kunstbetrieb: Thomas Kapielski hat mit „Sozialmanierismus“ den bislang komplexesten Band seines großformatigen und vielgestaltigen Künstler- und Entwicklungsromans geschrieben
von GERRIT BARTELS
Es geschieht ohne Vorwarnung, fast aus dem Nichts heraus, als Thomas Kapielski in seinem neuen Buch „Sozialmanierismus“ zum ersten Mal gepflegt einen einschenkt. Eben hat er noch ein Modell zur Erfassung der Realität durch Thesen, „Hyperthesen“ und so genannte Zichtenthesen entworfen, da landet er schon übergangslos beim „hinreichend parfümierten Mist“ des literarischen Kalvarienbergs in Prenzlauer Berg und dem neumodischen Literatur- und Kunstbetrieb überhaupt: „Die Literatur und Kunst gehen ja nicht ins Elend, wenn keiner mehr schreibt und künstelt, sondern wenn alle dies tun.“ Kapielski beklagt „Traktate trivialster Art“, „das lauwarm daheim Gefühlte“, „das fade Plaudern“, und er hat geradezu Angst, wenn er an die „Laberlawine“ denkt, die bald runterkommt, an den „Abfall von allen, für alle“ (aber ohne dem Rainald Goetz damit zu nahe kommen zu wollen!), auf dass es eines nicht mehr so fernen Tages nur noch heißen kann: Gute Nacht, Thomas, gute Nacht, Abendland, gute Nacht, Hochkultur!
Lamentieren allein aber bringt nichts, da muss man doch was tun! Weshalb Kapielski, der „sich die Welt erdichtet und daher an der Krankheit leidet, sie nicht mehr unmittelbar erfassen zu können“, ordentlich gegenhält; er bietet die Stirn und lässt den eigenen Geist, den eigenen Intellekt, die eigene Phantasie zu Wort kommen und zu Schrift werden. Und liefert seinerseits ein voluminöses Werk ab: ein 430 Seiten dickes Buch, ein für seinen Stammverlag, den diskursstarken Berliner Merve Verlag, ungewöhnlich dickes Buch. Als Dank (und Geleitschutz) gibt Kapielski dem Buch einen ordentlichen Kalauer mit auf den langen Weg nach Lichtenrade: „Je dickens destojewski!“. Fallstricke und doppelter Boden inklusive. Denn, klar doch, für Kapielski steht es außer Diskussion, dass von ihm kein „Labermüll“, kein „Laberdreck“ oder eben gar eine Laberlawine zu erwarten ist; dass das von ihm Ausgedachte, Langerzählte und Fotografierte alles zusammen die gleiche Wertigkeit hat, die gleiche literarische Wichtigkeit: die Wetterfühligkeit und andere Gestimmtheiten des Ich-Erzählers Thomas Kapielski; der Papierkorb auf der Bildschirmoberfläche und die Kampagne der chinesischen Regierung gegen explodierende Bierflaschen; die Entzündungen an der Klaferze und die Frage, was Kunst ist und was nicht; die gelehrten Betrachtungen und der gelehrte Quatsch, die Pissoirs und die Lampenstiele.
So viel dickes Fell muss sein, so viel Selbstbewusstsein auch, und so viel Treue zu sich und seinem Schaffen sowieso, schaut man sich alte, zum Teil noch vor der Wende entstandene Bücher von ihm an wie „Einfallspinsel = Ausfallspinsel“ oder „Aqua botulus“. Auch diese lebten von Aus- und Abschweifungen noch und nöcher, von der Verbindung anekdotenhafter, zotenreicher und hintergründiger Erzählungen und Betrachtungen mit Fotografien, wie man sie vor allem im kleinbürgerlichen Berlin im Allgemeinen und am Neuköllner Hermannplatz im Besonderen schätzt und liebt.
Seinerzeit lebte und werkelte Kapielski noch in den angesagten Bezirken des Berliner Westens, wo er sich in kleinen, feinen Kreisen einen Namen gemacht hatte mit bewusst dilettantisch gehaltenen Bildchen, obskurer Musik und vor allem hochinteressanten und amüsanten Lichtbildervorträgen. In diesen nahm er, freischweifender Künstler, der er war, nicht selten weniger zur Lage der Kunst Stellung als vielmehr zu der Neuköllns, seiner Bewohner und deren Macken. Ebenfalls einen Namen, aber einen eher anrüchigen, erwarb er sich, als er seinerzeit in der taz, für deren Berlinkultur er tätig war, eine Diskothek als „gaskammervoll“ bezeichnet hatte – er wurde dafür nicht nur rausgeschmissen und mit Schreibverbot geächtet. Dieser Fehltritt sollte ihm auch für die Zukunft ein treuer Begleiter sein, an dem nicht nur er selbst sich mühsam abarbeitete: Bis heute taucht diese Angelegenheit in jeder Rezension zu jedem neuen Kapielski-Buch getreulich auf (und es sei hiermit versprochen: das war zumindest an dieser Stelle das allerallerletzte Mal!).
Solcherart umtriebig, geehrt, verehrt und gebrandmarkt, hat es Kapielski inzwischen nicht nur zu zahlreichen Buchveröffentlichungen gebracht, sondern auch auf eine ordentliche Reihe ehrwürdiger Berufsbezeichnungen (mitsamt Berufen!): Autor, Künstler, Musiker, Fotograf, Vortragsreisender, Geograf und Dozent für bildende Kunst ist er, wie es der Klappentext zu „Sozialmanierismus“ getreulich aufführt. Kein Multiberufler aber, der nicht wüsste, wohin mit all seinen Talenten, sondern einer, der aus mangelnder Zielstrebigkeit eine Tugend gemacht hat und sich nicht mehr als redlich nähren wollte – so will es die eigene Legende vom doch lieber in der Kneipe als bei einer wichtigen Vernissage sitzenden Trinker, so hat es Thomas Kapielski am liebsten.
Mit den vielen Fähigkeiten und dem steten Vorsichhinkünstlern jedoch hat sich einiges verändert in Kapielskis Leben, durchweg nur Gutes, würde man ja gern so leicht und obenhin sagen. Aus dem passionierten Westberliner Scheiterer, dem noch passionierteren Biertrinker, „der seinen Ruhm jahrelang in verschiedenen Kneipen versteckt hatte“, dem furchtlosen Autodidakten und genialen Dilettanten, ist so was wie ein Erfolgsmensch geworden: „Zweimal erster Preis dieses Jahr (1999)“, Teilnahme am Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Lesen; eine Gastprofessur an der Braunschweiger Hochschule für bildende Künste; eine neu durchgesehene und gebundene Ausgabe einiger seiner schriftlichen Arbeiten bei Zweitausendeins.
Damit aber macht es sich einer wie Kapielski nicht leicht. Einer, der gern damit kokettiert, seinen Erfolg nicht strategisch angepeilt zu haben. Der die Ränder bevorzugt und die graubunte Vielfalt des Abseitigen. Der lieber im muffigen Lichtenrade wohnt als in Mitte (und wahrscheinlich bald in Bernau). Der aber vom Scheiterer zum Scheiterer mit Chancen wurde und schließlich, nach allgemein gängiger Auffassung, diese Chancen alle genutzt hat und nun mittendrin steht: im Kunstbetrieb, im Literaturbetrieb, im akademischen Betrieb.
„Sozialmanierismus“ gehorcht insofern einer Notwendigkeit, das Buch ist, auch in seiner Ausdehnung, Selbsterhalt und Selbstvergewisserung zugleich: Hier bin ich, hier schreibe ich, hier teile ich aus, hier durchschaue ich, hier wehre ich mich. Die alte Geschichte von Sub- und Hochkultur eigentlich: Wie bleibe ich standhaft, wie bleibe ich bei meinen Leisten? Oder aber, denn Kapielski hat, wie er gern zum Besten gibt, manchmal gar keine Leisten: „Aber ach, man war dem Kunstbetrieb geflohen und geriet nun in den Schlick des nächsten Idiotenbetriebs.“
Dieser bekommt also sein Fett weg in einem Klagenfurt-Kapitel, in dem natürlich auch „Baden Baden“ eingebettet ist, der Text, mit dem Kapielski in Klagenfurt und danach in der FAZ reüssierte, ein „Halbstünder, der nun, so als Meta-Mucke, auch unbedingt mitreflektieren mußte, was ich da so als neues Betriebsrädchen im Schreibgeschäft eigentlich machte. Man sollte immer wissen, was man eigentlich macht und vor allem mitmacht.“
Getreu dieser Maxime kommen auch die bildende Kunst und ihr angeschlossener Betrieb dran, ein Lieblingssujet Kapielskis, dieses Mal insbesondere unter Berücksichtigung seiner Tätigkeit als Professor an der HBK Braunschweig. Kapielski weiß, wie der Hase läuft, wie Ausstellungen erfolgreich zu organisieren und mit allem möglichen Bedeutungsschwulst aufzuladen sind, und läuft deswegen umso besser mit. Dann aber wundert er sich wieder so ganz und gar über den ihm anvertrauten Nachwuchs: über fehlenden Ehrgeiz, Talentlosigkeit, Unkenntnisse. Da ist Kapielski, der Durchblicker und „Erzählonkel“, ein kulturpessimistischer Bedenkenträger, der leidet und sich vorstellt, wie er seine Studenten am liebsten bilden würde: „Und so hetze ich sie zum Philosophen (Böhriger), treibe sie zur hohen Deutkunst der Kunstgeschichte (Zahlten), damit dort der Kanon Alteuropas sich ihnen ansiedeln möge, den man am Gymnasium heute zu bilden nicht mehr befähigt zu sein scheint.“ (Stattdessen besichtigt er mit den Studenten die ansässige Wolters-Brauerei.)
Der Bildungsbürger, Gelehrte, Wertkonservative und Modernisierungsverweigerer Kapielski kennt sich jedoch in den Niederungen anderen so genannten Kulturguts genauso gut aus und würdigt beispielsweise die Teletubbies mit einer Zeichnung, weil er weiß, dass „die vier Fernsehaffen alsbald gründlich in den rasch auftreibenden Müllbergen unserer Gesellschaft“ verschwinden würden.
Selbstredend, dass es bei solcherart Gesellschaftsanalyse nicht bleibt. Dass mit ihm in Sachen politischer Korrektness weiterhin kein Staat zu machen ist. Dass er gern den „Kitsch humaner Gutseinsvermutungen“ als solchen entlarvt und dahin geht, wo es richtig wehtut. So hat er in einer Empörung nach einem Überfall auf ihn in einer Kneipe nichts gegen die Todesstrafe, „denn wer rumrennt, mit der Absicht, jemanden umzulegen, der sollte dies wenigstens mit der Sorge tun, das ihm selbes widerfahren könnte“; so listet er fein dialektisch einen Kanon „nationalsozialistischer Losungen“ in Form eines Frage-Antwort-Spiels auf: „Deutschland? Nie wieder! Nation: böse.“ „Kurdisches Volkstänzchen? Folklore, fremdes Brauchtum, muß geschützt werden, bla“; und so hat er auch nichts dagegen, in Klagenfurt Jörg Haider die Hand zu schütteln, denn wenn erst mal „ein wahrer Schweinehund von verkehrten Postamenten herab gleisnerisch glitzernd die Arena betritt!“, erkennt den dann kein Schwein mehr. Trotzdem bekommt er als schwer denkender Denker, als schwer arbeitender Dichter, dessen Prosa man im Übrigen alles andere als einfach so runterlesen kann, und als Meister der Dialektik immer wieder solcherart die Kurve, dass man ihm in dieser Hinsicht gar nichts groß am Zeuge flicken wollte.
Immer schauen, wo man da mitmacht und wo nicht, immer schauen, wie man sich in Stellung begibt gegen die verschiedenen Formen des Falschen, gegen viele wohlmeinende, aber immer zu kurz gedachte Gesinnungen – Kapielski bleibt dran, bleibt hartnäckig, unser Mann in Havanna und Berlin, unser Mann im Betrieb, ein letzter Aufrechter im Heer der Oppurtunisten.
Weshalb er, trotz dicken Fells und anderer Kraftmeiereien, durchaus sensibel ist; ein Künstlerseelchen, das Stärkung braucht, nicht in den Hackeschen Höfen, sondern in der Kneipe Hoeck’scher Hafen (dies, weil so wichtig, steht gleich zweimal im „Sozialmanierismus“!), vor allem aber: am Schreibtisch.
So hat er ein Oeuvre verfasst, das sich sehen lassen kann, eine Recherche der eigenen Art, einen vielbändigen, großformatigen Künstler- und Entwicklungsroman, der mit „Sozialmanierismus“ seinen bislang komplexesten und kompaktesten Teil bekommen hat: Kapielski the years, 1999-2001. Mit einem Bogen, der geschlagen wird vom geriffelten Kaugummi als Madeleine-Ersatz, den ersten Gehversuchen als junger Künstler, der Erziehung des 8-jährigen Sohns, des „Schnulzenputzis“, bis zu den letzten Fragen, dem Tod der Mutter, dem näher rückenden eigenen. Ein Werk, Mann, ein Werk! Das sicher nicht bei einem knappen „Ende der Durchsage“ bleibt. Und über das sich schon lange nicht mehr, wie von Kapielski gewünscht, „immer klug, tief und leicht schweigen“ lässt.
Thomas Kapielski: „Sozialmanierismus“, Merve Verlag Berlin 2001, 433 Seiten, 19,95 €
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