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Ein Winter der Verzweiflung

Der Nachkriegswinter vor 55 Jahren kostete Hunderte Hamburger das Leben. Die Kohletransporte wurden umlagert und manchmal auch geplündert  ■ Von Bernhard Röhl

Zum Jahreswechsel 1946 lebten in Hamburg knapp 1,4 Millionen Menschen – die Stadt war zerbombt, und ihnen stand ein erbarmungsloser Winter mit Kälte und Hunger bevor. Bereits Mitte Dezember war die Temperatur unter null Grad gesunken, am 21. Dezember wurde mit -15 Grad einer der tiefsten Werte für diesen Monat gemessen. Aber das war erst der Anfang.

Am 28. Dezember hatte Nachkriegs-Bürgermeister Max Brauer (SPD) ein strenges Sparprogramm verkündet: In der Zeit von 10 bis 15 Uhr durften die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr fahren. Die Läden, in denen es ohnehin kaum etwas zu kaufen gab, konnten nur zwischen 9 und 15 Uhr öffnen. Zudem sollte die Hamburger Bevölkerung den Stromverbrauch freiwillig um 25 Prozent senken. Weil das nicht möglich war, stellten die Hamburger Electricitätswerke HEW den Haushaltsstrom zwischen 7 und 20 Uhr einfach ab. Theater, Kinos, Gaststätten mussten schließen, Schulen stellten den Unterricht ein. Auf dem Schwarzmarkt kostete ein Zentner Briketts 150 Reichsmark, eine kleine Kerze wurde mit zehn Reichsmark gehandelt.

Fast 200.000 Menschen vegetierten zudem in den so genannten Nissenhütten aus Wellblech, in Behelfshäusern, Lagern, Bunkern, Schreberlauben und Trümmerkellern. Die KPD-Bürgerschaftsabgeordnete Magda Langhans besuchte die Nissenhütten, deren Innenwände mit Eis überzogen waren. Das Wasser fror ein, die Wege waren vereist, die Toiletten und Wascheinrichtungen kaum zugänglich. Langhans richtete in einem Antrag die Bitte an den Senat, die Qualität der Hütten zu prüfen und die britische Militärregierung zu ersuchen, Holz, Wolldecken, Matratzen oder zumindest Stroh für die Bewohner zu liefern.

Hunger und die Kälte forderten derweil ihre ersten Opfer. Im Dezember 1946 starben 47 Menschen an Lungenentzündung, im Januar waren es schon 217, im Februar 230. Die auf Karten gewährten Lebensmittel erreichten nur noch einen Wert von 800 Kalorien. In der ersten Januarhälfte 1947 starben mindestens 210 Säuglinge in Hamburg. Diese katastrophale Entwicklung führte in der Bürgerschaft zu einer Debatte über Kleinstkinderrationen. Langhans hatte im Rathaus eine Anfrage nach Trockenkartoffeln für Säuglinge gestellt – dabei handele „es sich nicht um eine ideale Kindernahrung“, aber es fehlte auch an Gemüse und Obst. Die Abgeordneten Martha Dambrowski (SPD) und Käthe Lange (FDP) plädierten ebenfalls für eine Verbesserung der Säuglingsrationen. Lange berichtete davon, wie Frauen sich um einen Lastwagen gedrängt hätten, der mit Kohl beladen war. Da der Vorrat nicht für alle reichte, empörten sich die Frauen. Lange wertete dies als erstes Anzeichen von Hungerprotesten.

Die Staatliche Pressestelle veröffentlichte 1947 einen Band unter der Überschrift „Schrecken und Selbstbehauptung – Die Geschichte eines harten Winters“, in dem es unter anderem hieß: „Am 18. Januar werden 700 Mann Personal der Hochbahn als erkrankt gemeldet. Starker Mangel an Schaffnern und Wagenführern. Zehn Prozent der Bevölkerung wartet immer noch auf den ersten Zentner Hausbrand-Briketts. Bis zum 22. Januar melden die Zeitungen 36 Todesfälle durch Erfrieren und 119 Fälle schwerer Erfrierungen, die in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. 715 Kohlendiebe festgenommen. 19. Februar: 1200 Polizisten zum Schutz der Kohlentransporte eingesetzt. Unter den Kohlendieben ein Staatsanwalt und ein Geistlicher festgenommen.“

Frierende und hungernde Menschen stürzen sich damals auf die Kohlentransporte. Am Barmbeker Güterbahnhof mussten die Züge langsamer fahren, weil die Strecke bergauf führte. Einige Menschen nutzten das, um aufzuspringen und das Brennmaterial herunterzuwerfen. Der Verschiebebahnhof von Eidelstedt war ebenfalls Ziel der täglich etwa 30.000 Menschen, die zu den Gleisanlagen strömten, wie Polizeichef Bruno Georges (SPD) konstatierte.

Am 15. Februar 1947 appellierte Bürgermeister Brauer an den britischen General Robertson: „Die Krise in Hamburg hat ein unerträgliches Maß erreicht. Gas- und Energieversorgung sind zusammengebrochen. Die Krankenhäuser können nicht mehr beheizt werden. Die Haushaltungen sind ohne Licht, Heizungen und Kochmöglichkeiten. Eine geregelte Verbindung der Verwaltung mit der Bevölkerung über Radio besteht nicht mehr. Die Nachrichtenverbreitung über die Zeitungen ist völlig unzulänglich, ein Teil der Zeitungen kann bereits nicht mehr erscheinen. Hamburgs Bevölkerung ist der Verzweiflung preisgegeben, ihre Stadt ist zu einer sterbenden Stadt geworden. Die politischen Folgen sind unabsehbar.“

In weiten Teilen der Bevölkerung wurde die britische Besatzungsmacht für die Situation verantwortlich gemacht, die Schuld der braunen Diktatur für die Folgen in der Stadt wurde häufig genug verdrängt. Die Briten fürchteten offenbar die Unzufriedenheit und reagierten: Ab dem 22. Februar gestatteten sie, täglich 3000 Tonnen Kohle in die Hansestadt zu liefern.

In der Nacht zum 25 Februar sank die Temperatur auf -20 Grad. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein tobten Schneestürme, in Hamburg wanderten viele Bäume in die Öfen, ebenso Gartenzäune, Holz aus Möbelstücken und Parkettfußböden. Die Versorgung mit Lebensmitteln blieb problematisch. Das Landesernährungsamt weist bereits zum Jahresbeginn darauf hin, dass das Gemüse durch den Frost erheblich gelitten habe und „an einen weiteren Versand von Gemüse nicht zu denken ist“. Von 33 Fischdampfern konnten wegen der fehlenden Kohle nur vier zum Fang hinausfahren. Von Januar an war es nicht mehr möglich, die auf Lebensmittelmarken aufgerufenen Mengen an Brot zu liefern – so bestand das tägliche Brot nur noch aus Maismehl.

Am 4. März war das Eis der Oberelbe stellenweise einen Meter dick, 40.000 Menschen waren wegen des Strommangels arbeitslos. Erst Mitte März begann das Tauwetter, der Schnee fing an, langsam zu schmelzen.

In seiner Rundfunkrede vom 21. März bilanzierte Brauer: „Es hat viele gegeben, die nicht mehr wussten, ob sie diesen Winter des Grauens und der Dunkelheit überstehen würden. Aber sie und wir haben überlebt. In unseren Wohnungen brennt wieder Licht, der Druck der vergangenen Wochen beginnt zu weichen.“

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