: Ein zu großes Risiko
Berlin setzt gewaltsamen Brechmitteleinsatz aus, weil die Folgen unüberschaubar seien ■ Von Magda Schneider
Berlin hat Konsequenzen aus dem Tod des 19jährigen Achidi J. in Hamburg gezogen, der nach einem gewaltsamen Brechmitteleinsatz in der Rechtsmedizin der Uniklinik Eppendorf gestorben ist. Mit sofortiger Wirkung hat SPD-Innensenator Ehrhart Körting Berlins DrogenfahnderInnen angewiesen, bei der Strafverfolgung von mutmaßlichen Dealern auf den Einsatz des „mexikanischen Sirups“ zu verzichten, wenn die Betroffenen sich wehren. „Das Risko ist zu groß“, so Innenverwaltungs-Sprecherin Svenja Schröder-Lomb gestern zur taz hamburg.
Die Entscheidung sei eine reine Vorsichtsmaßnahme. „Wir haben zwischen Weihnachten und Neujahr unsere Praxis untersucht und festgestellt: Das läuft ja bei uns genauso wie in Hamburg.“ Deshalb sei die Praxis sofort ausgesetzt worden, bis die Todesursache endgültig geklärt ist. „Wenn alles noch unklar ist, ist ein solches Vorgehen nicht mehr zu verantworten,“ sagt Schröder-Lomb.
Nach einer ersten Obduktion durch Berliner Rechtsmediziner ist als Todesursache Gehirntod durch Sauerstoffmangel festgestellt worden. Derzeit sollen Nachuntersuchungen herausfinden, was der Auslöser des hirntodauslösenden Herzstillstandes war. Der Flüchtling aus Kamerun war – wie berichtet – am 9. Dezember in St. Georg von Fahndern festgenommen und in die UKE-Rechtsmedizin gebracht worden. Dort hat ihm eine Ärztin trotz erheblicher Gegenwehr dreimal eine Sonde durch die Nase in die Speiseröhre einzuführen versucht, um ihm 30 Milliliter des Brechmittels einzuflößen. Dabei sackte J. bewusstlos zusammen, fiel ins Koma und verstarb drei Tage später. Der Leiter der Rechtsmedizin Professor Klaus Püschel räumte ein, dass der Herzstillstand durch einen von der Sonde gereizten Nerv an der Luftröhre hervorgerufen worden sein könnte – ein Reflex, der jederzeit wieder auftreten kann.
In Berlin war Ipecacuanha bereits von 1994 bis 1996 verwendet worden. Aufgrund einer Verfassungsklage hatte die damalige SPD-Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit den Einsatz gestoppt. Nachdem das Verfassungsgericht 1999 in einer Entscheidung Brechmittel per se nicht für verfassungswidrig erklären wollte, solange nicht klar sei, ob eine zwangsweise Verabreichung überhaupt medizinisch zu rechtfertigen ist, wurde das Präpaprat seit März 2000 in Berlin wieder verwendet. Als sich im Sommer in Hamburg die Wahlniederlage von Rot-Grün gegen den Rechtsblock abzeichnete, gab die nun für die Hansestadt veranwortliche Justizsenatorin Peschel-Gutzeit ihre Bedenken gegen das gewaltsame Brechen auf.
In Berlin hat es in fast zwei Jahren bei 120 Brechmitteleinsätzen nur 17 Fälle gegeben, bei denen das Mittel zwangsweise verabreicht wurde. Verzichte man darauf, könne von einem „haufenweise Beweismittelverlust“ nicht die Rede sein, so Schröder-Lomb. Zumal geschluckte Kügelchen normalerweise binnen 48 Stunden über den Stuhlgang ausgeschieden werden.
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