: Tapete unter Hochspannung
Der Griff an die Heizung hätte einem kleinen Jungen fast das Leben gekostet. Er ist nun schwer geistig und körperlich behindert. Dafür muss sich nun ein Elektriker vor dem Amtsgericht verantworten
von PLUTONIA PLARRE
Es hätte nur eines kleinen Routinegriffs bedurft – und der kleine Tim würde heute auf dem Spielplatz herumspringen wie andere Kinder auch. Aber eine Überprüfung der Steckdose mit einem funktionierenden Messgerät ist nicht erfolgt. Als das auf dem Boden krabbelnde Kind gleichzeitig die Stehlampe und die Heizung berührte, bekam es einen solchen Stromschlag, dass es seither schwer geistig und körperlich behindert ist.
Wegen des Vorfalls, der sich am 6. Juli 2000 in einer Reinickendorfer Altbauwohnung ereignet hat, muss sich seit gestern ein 52-jähriger Elektriker vor dem Amtsgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen vor. Den Körper gebeugt, das grauhaarige Haupt zu Boden gesenkt, saß der Mann vor der Richterin: „Ich bedaure zutiefst, das das Kind verunfallt ist, aber ich bin mir keiner Schuld bewusst“, sagte er mit leiser Stimme. In seinem 30-jährigen Berufsleben habe er stets verantwortungsvoll gearbeitet. Dazu gehöre auch die ordnungsgemäße Überprüfung mit einem Kontrollmessgerät nach Abschluss der elektrischen Arbeiten. Das, so Jürgen N., habe er auch im Sommer 1999 in der besagten Wohnung getan.
In eine frisch renovierte Wohnung war die Familie K. damals eingezogen. Ein dreiviertel Jahr war alles gut gegangen, obwohl bei mehreren Steckdosen die Schutzleiterbügel – die sichtbare Metallklammern – unter Spannung standen. Der kleine Tim war genau ein Jahr alt, als das Unglück geschah. Die Eltern konnten sich zunächst überhaupt nicht erklären, was geschehen war, als das Kind am Nachmittag plötzlich leblos zwischen Lampe und Heizung auf dem Boden lag. Der Großvater war schließlich derjenige, der herausfand, wodurch der Junge zu Schaden gekommen war. Nach sechs Wochen auf der Intensivstation und ein dreiviertel Jahr in einer Rehabilitationsklinik lebt Tim heute wieder zu Hause. Seine Mutter hat ihren Beruf aufgegeben, um das Kind rund um die Uhr pflegen zu können. „Bewegungen sind fast nicht mehr möglich, er kann kaum noch den Kopf halten“, beschrieb der Vater, ein 31-jähriger Gas-Wasser-Installateur, gestern vor Gericht den Alltag. „Er kann nichts greifen und nicht allein essen, trinken ist nur mit einer Spritze möglich.“ Er wolle dem Angeklagten nichts Böses unterstellen, sagte der Vater dann gefasst. „Fehler sind überall möglich. Aber dieser hatte eine große Auswirkung.“ Nach Feststellung der Sachverständigen war die elektrische Leitung in der Wohnung zum Teil jahrzehntealt. Der Auslöser für den Defekt war eine unter Putz liegende Lüsterklemme, in der die Verpolung früher einmal vertauscht worden war. Das habe der Angeklagte nicht wissen können, als er von der Lüsterklemme in der vorgegebenen Farbenfolge den logisch richtigen Anschluss zur Steckdose legte. Bei einer ordnungsgemäßen Kontrollmessung hätte ihm aber auffallen müssen, so die Gutachter, dass die Steckdose fehlerhaft mit Strom versorgt worden war.
Auf dem Gerichtsflur gaben die Gutachter zu verstehen, dass Theorie und Wirklichkeit wie bei anderen Berufen auch in der Elektrikerbranche weit auseinander klafften. Eine Überprüfung der Anschlüsse nach Beendigung der Arbeit sei zwar vom Berufsverband vorgeschrieben, die Praxis sehe jedoch oftmals anders aus. Manch Handwerker, der der Meinung ist, die Farben richtig angeschlossen zu haben, und das Messgerät im Auto vergessen hat, wird sich damit zufrieden geben. Der Prozess wird am 21. Januar fortgesetzt.
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