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Flirrendes, verrätseltes Nerventheater

■ Woyzeck im Jungen Theater: Eine geworfene Kreatur, überfordert und unfrei – ideal um sich und dem Publikum zu beweisen, wie frei man selbst ist. Das Problem dabei: Der Text verliert sich im Bodenlosen

Nicht jeder Tag ist funky. Keine Frage. Blöd nur, wenn gar nichts funktioniert, wenn alles, alles schräg läuft. Woyzeck ist so einer, mit dem man nicht tauschen möchte: Als kleiner Soldat muss er sich demütigen lassen von seinem Hauptmann. Der Doktor miss-braucht ihn für medizinische Experimente. Draußen vor der Stadt hat er Halluzinationen, hört die Freimaurer im Erdinneren trommeln. Und zu Hause muss er ein uneheliches Kind ernähren und eine Frau lieben, die ihn betrügt.

Woyzeck hat Schwierigkeiten. Und weil Georg Büchner diese Schwierigkeiten 1836 ohne poetische Überformung und in realistischem hessischen Dialekt aufgeschrieben hat, ist er eine der ersten modernen Figuren in der deutschen Bühnenliteratur.

Dazu ist Büchner beim Woyzeck über das Fragment nicht hinaus gekommen, ein Fragment, das Theaterkünstler geradezu auffordert, mit dem Text umzugehen: Eine geworfene Kreatur, überfordert und unfrei, ideal, um sich und dem Publikum zu beweisen, wie frei man selbst ist. Ideal für das freie Theater, um zu sich selbst zu finden. Wir sind so frei: Woyzeck im Jungen Theater heißt „Marie, Woyzeck, ...“, ist nicht mehr von sondern nach Georg Büchner und hat mit dem nicht mehr viel aber schon noch irgendwas zu tun.

Woyzeck im Jungen Theater, das sind schnell geschnittene Szenen, verbunden durch maschinelle, futuristische Sounds – ein flirrendes, verrätseltes Nerventheater, regelmäßig ironisch gebrochen durch Tanzeinlagen zu Elivs- und Frank-Sinatra-Nummern. Bühnenbildnerin Eva Henschkowski hat dem Woyzeck-Personal einen Straßenzug in die Halle am Güterbahnhof gebaut, eine abstrahierte Universal-Kulisse zum Ausklappen. Die „Marie, Woyzeck, ...“-Welt ist weitläufig und düster, sie läuft auf einen Fluchtpunkt zu, zwanghaft und endlos. Und direkt vor den Zuschauern bekämpfen sich Marie und Woyzeck auf engstem Raum, Mariens Kammer ist ein schmaler Streifen Bühne, ein verpacktes Sofa, eine 50er-Jahre-Lampe.

Regisseurin Anja Wedig wirft die Szenen durcheinander, ihr Woyzeck ist wie ein Fiebertraum, verrätselt, ein Nummernprogramm ohne Chronologie. Was Woyzeck genau quält, dafür interessiert sich diese Inszenierung nicht. Vielmehr liefert Woyzeck den Grund, Wahnsinn, Haltlosigkeit und Isolation auf die Bühne zu bringen, und ironisch zu kommentieren: Immer wenn's an die Schmerzgrenze geht, kommt Elvis aus den Lautsprechern, tröstender Pop ist die Chance, mit dem Bodenlosen fertig zu werden. Klar, im Jungen Theater wissen sie auch nicht, wie Woyzeck geholfen werden kann – was dann am Ende rauskommt, ist so sperrig wie rund, ist manchmal furchtbar kompliziert und furchtbar flach. Klaus Irler

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