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Die alten Fronten also, neu aufgelegt

Die Berliner Schlossdebatte und die New Yorker Diskussion über den Ground Zero: Der deutsch-polnische Workshop, der sich letztes Wochenende im Berliner Kronprinzenpalais dem Thema „Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten“ widmete, hatte aktuelle Relevanz

von CHRISTIAN SEMLER

Eine 1-Million-Euro-Quizfrage: Welches aus der Nazizeit stammende Gebäude wurde zum Bestandteil eines Ensembles, das zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt worden ist? – Große Aufregung der versammelten Denkmalpfleger und Kunsthistoriker. Der Naziumbau der Salierburg in Goslar? Keineswegs. Die richtige Antwort lautet: die Residenz des Generalgouverneurs Hans Frank auf dem Krakauer Wawel. Kein Besucher ahnt heute mehr, wann und zu welch üblem Zweck das Gebäude errichtet wurde. Es wurde eingemeindet ins geheiligte, identitätsstiftende Nationalheiligtum.

Die Quizfrage hatte Andrzej Tomaszewski, der Generalkonservator Polens und Doyen der polnischen Denkmalpfleger, gestellt. Er war einer der Referenten des deutsch-polnischen Workshops, der letztes Wochenende im Berliner Kronprinzenpalais zum Thema „Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten“ unter Mitwirkung von zahlreichen Experten sowie – man ahnte es – von Pro- und Kontra-Parteigängern der Berliner Schlossrekonstruktion abgehalten wurde. Tomaszewskis Prüfungsfrage stellte ironisch das Dilemma der polnischen Denkmalpfleger nach 1945 auf den Kopf. Denn während Krakau und die polnische Königsburg dank des unerwartet raschen Vormarsches der Roten Armee 1944 völlig unzerstört befreit wurden, lagen viele historische Städte Polens in Schutt und Asche, darunter das planvoll und vollständig nach der Niederschlagung des Aufstands von 1944 zerstörte Warschau. Aber auch Breslau, Danzig und Stettin, die dem neuen Polen nach der „Westverschiebung“ des Staates angehören sollten und die nach 1945 polnischerseits als „zurückgekehrtes“ Territorium angesehen wurden, waren weitgehend zerstört. Die alles entscheidende Frage lautete also: Neuaufbau oder Rekonstruktion?

Es macht das Verdienst der drei federführenden Institutionen des Workshops – des Historischen Museums Berlin, des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt und des Leipziger Polen-Instituts – aus, die grundlegend unterschiedlichen, aber dennoch vergleichbaren Erfahrungen Nachkriegsdeutschlands und Nachkriegspolens bis in die Gegenwart hinein in Beziehung gesetzt zu haben. Das Seminar erörterte die Grundfrage nach der Legitimation vollständiger Rekonstruktion untergegangener Baudenkmäler, aber anhand der Potsdamer und Berliner Wiederaufbauprojekte wurde, ziemlich hitzig, auch die aktuelle Dimension der Fragestellung erörtert: Identitätsstiftung oder Vernichtung von Geschichte durch den Neubau, Disneyland oder notwendige geistige Vergegenwärtigung? Also die alten Fronten, neu aufgelegt.

Gleichsam als Kontrastprogramm referierte Robert MacDonald vom Museum of the City of New York über die Frage, was mit dem sogenannten Ground Zero, dem Ort also, wo bis zum 11. September die Twin Towers standen, geschehen und welchen Prinzipien ein künftiges Memorial beziehungsweise eine der Katastrophe gewidmete Ausstellung folgen soll. MacDonald hob hervor, dass das Attentat gerade nicht gegen eine der großen identitätsstiftenden Bauten gerichtet gewesen sei – das amerikanische Identitätssymbol sei die amerikanische Flagge. Die Menschen hätten das Attentat vielmehr als einen Angriff auf ihre Lebensweise und auf ihr Selbstverständnis als amerikanische Bürger empfunden. Diese Erschütterung und die Reaktion auf sie gelte es zu dokumentieren – mit einer Vielzahl von Alltagszeugnissen bis zu der berühmten wall of prayers, die Entsetzen und Trauer vor allem von Angehörigen der Opfer dokumentiert. Hinsichtlich des Ground Zero gibt es zwar ein Einverständnis zur Errichtung einer Gedenkstätte und einer verkleinerten Form der Twin Towers. Doch stehen sich hier zwei Fraktionen gegenüber: die patriots unter Führung des ehemaligen und die developer unter Führung des neuen Bürgermeisters. Wollen die „Patrioten“ ein großes Areal im südlichen Manhattan als Ort der Erinnerung umgestalten, so treten die „Entwickler“ dafür ein, gerade als Antwort auf das Attentat das Gebiet wieder für die kommerzielle Nutzung freizugeben.

Die mitteleuropäische, Polen und Deutschland nach 1945 gemeinsame Ausgangslage war demgegenüber vom Problem der historischen Identität bestimmt, freilich fielen die Antworten zunächst grundverschieden aus. Für die deutsche Seite referierte Werner Durth, der in den Achtzigerjahren ein bahnbrechendes Werk über die städtbauliche Planungskontinuität vor und nach 1945 verfasst hat. Durth erinnerte daran, dass der Luftkrieg der Alliierten von vielen deutschen Planern nicht allein mit Entsetzen, sondern auch mit Erleichterung aufgenommen worden war – „jetzt haben uns die Tommys die Arbeit abgenommen“.

Jetzt endlich sollte die Bahn frei werden für die Entwicklung von Stadtlandschaften, die sowohl dem Bedürfnis nach Licht und Natur als auch dem nach ungehindertem Straßenverkehr der Zukunft entgegenkamen. Und mit den Massenwohnquartieren sowie der drangvollen Enge der mittelalterlichen Zentren konnte endlich Schluss gemacht werden. An deren Stelle sollten Agglomerationen treten, die sich Bändern gleich der Topografie anpassten. Hannover galt da in jeder Hinsicht als Musterlösung. Und Durth erinnerte an den Ausspruch von Theodor Heuss: „Der Ruf nach Tradition bleibt echolos.“

Durths ironische Genealogie und seine Revue des grausamen Missverhältnisses von Anspruch und Realisierung deutscher Stadtplanung traf auf ungeteilte Zustimmung des Publikums. Ganz anders die Reaktion auf seine Interpretation des Baugeschehens in der sowjetischen Zone beziehungsweise später der DDR. Durth stellte rundheraus in Abrede, dass es bei den SED-Machthabern einen antimonarchischen oder antifeudalen Affekt überhaupt gegeben habe. Vielmehr sei die Zerstörung historischer Bauten eine Art Folgeerscheinung der sozialistisch-stalinistischen Stadtutopie gewesen, zu deren Merkmalen die Massenaufmärsche ebenso gehört hätten wie der Massenverkehr bei den Planern im Westen. Durth und seine Anhänger rückten den Aufbau insbesondere Ostberlins in die Nähe der Pläne der westdeutschen Kollegen. Seine Berliner wie Potsdamer Widersacher sahen in den Deklarationen und mehr noch in der Praxis der SED-Bauherrn einen einzigen Beweis für totalitäre Zerstörungswut im Namen des „neuen Menschen“. Dass beide Interpretationen auf die ideologische Basis der damaligen Baupolitik abhoben, bedeutet allerdings nicht – worauf die polnischen Wissenschaftler hinwiesen –, dass dieser Unterschied unerheblich wäre. Schließlich geht es nicht um Verdammungsurteile, sondern ums „Verstehen“ historischer Prozesse.

Konnten die deutschen Befürworter des Wiederaufbaus untergegangener Baudenkmäler auf polnische Schützenhilfe vertrauen? – Nur bedingt. Aus der faszinierend genauen Rekonstruktion der politischen Entscheidungsprozesse im Nachkriegspolen ging hervor, dass die historische Rekonstruktion ganzer Stadtquartiere, vor allem der Wiederaufbau der Warschauer Altstadt, einem Konsens entsprach, dessen Wurzeln in einem Gefühl unmittelbarer Gefährdung der Identität „als Pole“ zu suchen sind. Von Anfang an wurden Gebäude nicht so sehr von ihrer erhaltenen materiellen Substanz her gesehen, sondern als eine Art immaterieller Ideenträger. Natürlich waren auch die Planer, Architekten und Denkmalpfleger Polens im Geist der Maxime „Konservieren, nicht restaurieren!“ des Kunsthistorikers Ludwig Dehio erzogen worden. Sie wussten, dass mit der Kopie die Spur der historischen Erinnerung an den Bauwerken getilgt wird, dass sie ihren Charakter als Zeugnisse der Vergangenheit einbüßen, dass es wohlmeinende Fälschungen sind.

Die polnischen Referenten legten dar, wie überwältigend der emotionale Druck zur Rekonstruktion war und wie listig sich diese Rekonstruktion mit den Prämissen sozialistischer Stadtplanung – national in der Form, sozialistisch im Inhalt – verband. Gegenüber den Kritikern wurde seinerzeit darauf bestanden, dass die Rekonstruktion auf strikt wissenschaftlich dokumentierter Grundlage erfolge, dass sie getreulich dem Bild entspreche, das einst Canaletto in seinen Veduten aus dem 18. Jahrhundert gezeigt habe. In Wirklichkeit, so die polnischen Forscher, hätte die Rekonstruktion den Zwängen der Planung ebenso gehorcht wie sie den Versuchungen der Fantasie erlegen sei. Das Ergebnis sei eine romantische Rekonstruktion gewesen. Sie habe mit den im 19. Jahrhundert wiedererrichteten Stadtwällen Violet le Ducs in Avignon mehr Ähnlichkeit als mit detailgenauer Rekonstruktion. Das werde schon durch die Tatsache erhellt, dass historistische und Jugendstilbauten unabhängig von ihrer künstlerischen Bedeutung systematisch aus dem Rekonstruktionsplan ausgeschlossen worden seien. Dieser romantische Geist hat schließlich die Planer wie die Architekten zur Billigung jenes französischen Witzes gebracht, wonach das rekonstruierte Gebäude fidèle sei, aber nicht belle – oder umgekehrt.

An die deutschen Fans eines Wiederaufbaus gewandt, machte Konstantin Kalinowski klar, dass er den Deutschen keinen Rat zu erteilen habe, denn beim Wiederaufbau gänzlich zerstörter Gebäude ginge es um einen emotional-politischen Komplex, der sich der vergleichenden Bewertung entziehe. Kalinowski zog dann, weit ausholend, das Denkmalverständnis des fernöstlichen Kulturkreises heran, um zu zeigen, dass dort nicht „die Spur der Steine“, sondern die tradierten Bauformen samt ihrem affektiven Gehalt als entscheidend angesehen würden, sodass zwischen dem ursprünglichen Gebäude und seiner zigfachen Erneuerung nicht jene Kluft gesehen werde, die für das abendländische Denken und seine Vorstellung einer Aura nach wie vor so wichtig sei. Fest stehe immerhin, dass die wiedererrichteten Altstädte Warschaus, Danzigs und Breslaus, neuerdings sogar Stettins, ihre eigene Geschichte entwickelten und aus eigenem Recht existierten.

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