: „Wir müssen Polen bekannter machen“
Seit der Wende werden Berlin als künftiger Ost-West-Drehscheibe goldene Jahre vorhergesagt. Doch zwei Jahre vor der geplanten EU-Osterweiterung sind die Weichen dafür kaum gestellt. Vier Experten debattieren, welche Fehler gemacht wurden und wie der rot-rote Senat das Thema anpacken sollte
Moderation: UWE RADA und RICHARD ROTHER
taz: Zwei Jahre vor der geplanten EU-Osterweiterung entdeckt der neue Senat plötzlich das Thema Osteuropa. So soll unter anderem die Rolle des Osteuropabeauftragten gestärkt werden. Wird das ihr Job werden, Herr Martinsen?
Wolfram O. Martinsen: Als Herr Wowereit Regierender Bürgermeister wurde, hat er gesagt, nun ist der bisherige Osteuropabeauftragte Elmar Pieroth weg, jetzt haben Sie es leichter, jetzt sind Sie für alles zuständig.
Warum plötzlich die Aufmerksamkeit für diesen Posten?
Martinsen: Es hat der klare Focus gefehlt. Wenn man wie bis dahin einen Osteuropabeauftragten, einen Osteuropakoordinator und drei verschiedene Marketing-Organisationen hat, dann zeugt das nicht von Geschlossenheit und dem Wunsch, etwas wirklich umsetzen zu wollen.
Höchste Zeit scheint es ja zu sein. Bei den Exporten nach Polen und andere mittel- und osteuropäische Länder verliert Berlin ständig an Boden. Hat Berlin da seine Chancen verschlafen? Oder wird die Rolle Osteuropa vielleicht auch überbewertet?
Rainer Seider: Ich weiß nicht, ob die Rolle Osteuropas überbewertet wird. Das Defizit Berlins im Export ist bekannt.
Das weiß man aber schon seit zehn Jahren.
Seider: Ich will das auch nicht rechtfertigen, ich will auch offen lassen, ob da Fehler gemacht wurden. Aber zehn Jahre sind nicht viel, man meint immer, da könnte man so schnell umschalten. Heute muss man ja auch die Frage stellen, was ist eigentlich Export. Wie exportiert man Telekommunikation und Dienstleistungen, wie misst man das überhaupt? Es ist also sehr schwierig, hier mit Zahlen zu arbeiten. Im Übrigen gab es immer wieder Stimmen, die gesagt haben, fünfzig Prozent der Berliner Exporte gehen nach Westeuropa – warum vernachlässigt ihr das und konzentriert euch vorwiegend auf Mittel- und Osteuropa?
Ist Ihnen das zu wenig Selbstkritik, Herr Martinsen?
Martinsen: Ja und nein. Ich muss noch einmal dran erinnern: Wenn wir bei Siemens früher ein Exportgeschäft gemacht haben, ging das immer über Berlin, aus guten Gründen. Man konnte etwa bei der Herstellung in Berlin zehn Prozent teurer sein, war damit aber wegen der Berlin-Subventionen immer noch wettbewerbsfähig. Und das ist mit dem Fall der Mauer auf einen Schlag weg gewesen. Das ist ja auch der Grund dafür, dass 300.000 industrielle Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Woran Berlin meiner Meinung nach aber zu lange festgehalten hat, ist der Glaube, diesen alten Industriestandortcharakter wiederherstellen zu können. Erst Mitte der Neunzigerjahre hat man begonnen, sich auf völlig andere Kompetenzen zu konzentrieren.
Seider: Es wurden viele Aktivitäten in Richtung Mittel- und Osteuropa entwickelt, aber schlecht aufeinander abgestimmt. Da war es für einen Außenstehenden sehr schwierig, zu sehen, an wen er sich wenden muss.
Herr Dyckhoff, Sie arbeiten an EU-Projekten wie Baltic Bridge oder Waterfront Urban Development. Wie steht es mit dem Naheliegenden? Warum überzeugen Sie nicht die Brandenburger Regierung, den regionalen Zugverkehr nicht nur nach Schwedt, sondern auch nach Stettin zu bestellen?
Claus Dyckhoff: Sie finden das jetzt im Grenzlandprogramm der Landesregierung von Brandenburg. Außerdem stellt die EU-Kommission zusätzliche Mittel bereit, um den Beitrittsprozess zu unterstützen. Da werden in den nächsten Jahren 195 Millionen Euro auf die Grenzregionen verteilt. Und da stehen die von Ihnen genannten Maßnahmen drin, also auch die Elektrifizierung und der zweigleisige Ausbau der Schienenstrecke zwischen Angermünde und Stettin, aber auch zwischen Cottbus und Forst für eine Geschwindigkeit von 160 Kilometer die Stunde. Das ist erklärtes Ziel der Brandenburger Landesregierung, aber auch der Berliner. Für Berlin hat zum Beispiel der Korridor über Breslau und Krakau nach Kiew hohe Priorität.
Auf der anderen Seite wurde der Interregio von Berlin über Stettin nach Danzig von der Bahn eingestellt.
Dyckhoff: Dagegen haben wir, wie auch der Senat, protestiert. Allerdings ohne Erfolg. Die Begründung für die Bahn war letztlich, dass der Bedarf nicht da ist. Ich denke aber, dass wir gerade hier darauf angewiesen sind, nicht Anpassungsplanung zu machen, sondern Angebotsplanung.
Das dürfte ganz in Ihrem Sinne sein, Herr Stoll. Bei den letzten Sitzungen des Stadtforums zum Thema haben Sie sich im Namen von Herrn Strieder vehement für bessere Verbindungen nach Mittel- und Osteuropa stark gemacht.
Michael Stoll: Ich könnte mir vorstellen, dass wir Stettin und andere Städte in Polen schneller erreichen, wenn wir uns klar machen, dass das dort Verbündete sind. Jede Verbindung nutzt immer beiden Partnern. Zum andern sollte wir auch hier in Berlin die Verbündeten nützen. Der Bundesminister für Bauen, Verkehr und Raumordnung sitzt nicht mehr am Rhein, sondern hier in Berlin. Dadurch werden sich also auch die Bundesbediensteten der besonderen Lage Berlins in Europa klarer. Im Übrigen, Herr Dyckhoff, müssen wir nicht immer nur auf die perfekten Lösungen warten. Ich nenne mal ein Beispiel. Warum soll es nicht der Firma Connex gelingen, vorerst mit einem Dieseltriebwagen ohne Wechsel von Berlin nach Stettin durchzufahren? Und das zu einem günstigeren Tarif als heute und mit Reklame dafür auch in Polen.
Würden Sie diesen Zug dann bei Connex bestellen?
Stoll: Das müsste das Land Brandenburg tun. Hier zeigt sich, wie wichtig eine gemeinsame Planung ist.
Wie wichtig sind denn die Verkehrsverbindungen? Welche Bedeutung hat die Schiene, auch für die Wirtschaft?
Stoll: Man sollte sich auch trauen, nicht nur die bisherigen Zahlen fortzuschreiben, sondern darüber hinaus auch mögliche Zuwächse sehen. Die werden zweifellos kommen. Es ist unvorstellbar, dass die Situation Schengen, also ein kontrollfreier Grenzübergang, nicht auch Zuwächse generiert, die heute noch nicht ableitbar sind. Es wird zum Beispiel auch mehr Freizeit- und Bildungstourismus einsetzen. Warum sollen Polen, die viele immer nur als Händler oder als Billigarbeiter begreifen, nicht ganz genauso wie wir das Interesse haben, sich hier Kulturgüter und Museen anzuschauen oder den Zoo zu besuchen. Wenn wir klug sind, müssten wir zum Beispiel versuchen, dort Werbung zu machen.
Ist denn der Bereich Bildung, Tourismus, Verkehr in den vergangenen Jahren nicht immer im Vergleich zur Wirtschaftspolitik zu kurz gekommen?
Stoll: Ich denke schon. Was wir eigentlich brauchen ist das, was ganz nachhaltig am langfristigsten wirkt. Dazu gehört eine Schulausbildung, die mehrsprachig ist und auch Polnisch in einen Rang erhebt, dass es eben nicht mehr eine zweit- oder drittrangige Sprache ist. Überhaupt: Wir müssen hier in Berlin Polen bekannter machen, und wir müssen auch die Polen einladen, sich hier bekannter zu machen.
Soll Herr Böger hundert neue Polnischlehrer einstellen?
Stoll: Mittelfristig ja.
Seider: Es ist natürlich schwierig, so etwas von außen zu verordnen. Der Senat kann nicht die Mentalität der Berliner verändern. Wenn wir Polnischlehrer einstellen, heißt das noch lange nicht, dass das Interesse an Polen wächst. Die Frage, wie attraktiv die polnische Kultur ist, kann nicht der Senat, das müssen die Berliner beantworten.
Sie haben mit Ihren Asien-Pazifik-Wochen sehr großen Erfolg. Da geht es sowohl um Geschäftsabschlüsse als auch um Kultur. Warum nicht auch demnächst Mittel- und Osteuropa-Wochen?
Seider: Ich halte das für eine sehr gute Idee. In dem Augenblick, in dem jemand den Auftrag in der Senatskanzlei bekommt, machen wir das. Das könnte schon in zwei Jahren über die Bühne gehen. Wir könnten die Osteuropa-Wochen auch abwechselnd mit den Asien-Pazifik-Wochen veranstalten, also in jedem geraden Jahr. Ich hielte das Potenzial in Berlin dafür großartig, sowohl wirtschaftlich als auch kulturell.
Werden Sie das Herrn Wowereit vorschlagen, Herr Martinsen?
Martinsen: Garantiert werde ich das tun, zumal sich ein solches Ereignis wunderbar auch mit einer Verkehrsmesse wie der Innotrans verbinden ließe.
Herr Seider, wird sich denn der neue Senat solcher Themen als Chefsache annehmen?
Seider: Wir haben bisher nur eine Koalitionsvereinbarung. Das ist ein parteipolitisches Dokument und noch keine Regierungserklärung. Ich kann noch nicht sagen, ob zum Beispiel eine Stabsstelle in der Senatskanzlei eingerichtet wird. Es soll aber geprüft werden, wie eine stärkere Vernetzung aussehen kann, wie man Berlin besser von außen wahrnimmt und sich nicht in der Berliner Vielfalt der Marketing-Gesellschaften verirrt. Auch, welche organisatorische Form das Ganze annehmen wird, ist noch offen, also ob es innerhalb oder außerhalb der Verwaltung liegen wird, beim Regierenden Bürgermeister oder bei der Wirtschaftsverwaltung.
Martinsen: Ich baue sehr stark auf die Selbstorganisation der Beteiligten. Ich halte nichts davon, an irgendeiner Stelle eine neue Superorganisation Osteuropa zu schaffen. Ich plädiere eher für mehr Koordination. Ein Beispiel: Voriges Jahr gab es einen Polenabend. Da hat Diepgens Osteuropabeauftragter Pieroth was gemacht, da hab ich als Osteuropakoordinator was gemacht, und der Senator für Wirtschaft hat auch etwas gemacht. Keiner hat voneinander gewusst, und alle haben sich gewundert, dass das Publikum ausblieb. Wenn sich dieser Senat darauf verpflichtet, Mittel- und Osteuropa ernst zu nehmen, müssen wir diszipliniert Termine koordinieren und verlässlich zur Verfügung stehen. Das gilt auch für den Regierenden Bürgermeister und den Wirtschaftssenator.
Die Berliner Verbindungen nach Mittel- und Osteuropa sind das eine. Wie sieht es denn in Berlin selbst aus? Ist Berlin für Mittel- und Osteuropäer eine offene Stadt? Wer von Ihnen hat denn zuletzt einen Brief an die Bahn oder die Flughafengesellschaft geschrieben, die Ausschilderungen nicht nur in Englisch, sondern auch in Polnisch zu machen?
Stoll: Ich habe mich beim Bahnhofsvorstand am Zoo direkt beschwert, weil die polnischen Ansagen in deutschen Zügen nach Polen oft wieder eingestellt wurde. Da wurde dann gesagt, ja, das Personal ist noch in Ausbildung. Aber sicher kann man da etwas mehr tun. Wenn ich mal ein ganz simples Beispiel nennen darf. Am 16. Juni schließen wir endlich unseren S- Bahn-Ring. Gleichzeitig gibt es aber eine monatelange Sperrung des Nord-Süd-Tunnels. Für Leute, die nicht ortskundig sind, ein großes Problem. Warum soll es da nicht auch ein Faltblatt geben, in dem man auf Polnisch über die Ausweichrouten lesen kann. Das wäre ein Geste nach dem Motto: Wir nehmen euch ernst.
Herr Martinsen, wie nehmen die Investoren aus Mittel- und Osteuropa Berlin wahr?
Martinsen: Wenn ein Gegenbesuch stattfindet, aus einer Stadt oder von einer Organisation, geht es auch um die Frage, wie aufmerksam die Vertreter empfangen werden. Wer ist da? Wer zeigt Flagge? Da würde ich mir wünschen, dass die Berliner Gastgeber mit größerer Aufmerksamkeit sind, und es nicht als lästige Pflicht ansehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen