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Heute keine Sprechstunde

Um ihrer Forderung nach einer Erhöhung der Honorare für Konsultationen und Hausbesuche Nachdruck zu verleihen, streikten in Frankreich gestern die Hausärzte

PARIS taz ■ Rund drei Viertel aller Hausärzte haben gestern in Frankreich gestreikt, um ihre Forderung nach einer generellen Erhöhung der Krankenkassentarife für ihre Konsultationen und Hausbesuche durchzusetzen. Die Regierung Jospin befürchtet, dass die Finanzen der öffentlichen Sozialversicherung wieder außer Kontrolle geraten.

Hippokratischer Eid hin oder her – die Gesundheit der Patienten musste gestern hinter dem materiellen Wohlergehen der Ärzte zurückstehen. „In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an die Notfallstation“, hieß es fast überall auf den Telefonbeantwortern der Ärzte. Die Krankenhäuser waren in der Folge vom zusätzlichen Ansturm der echten und imaginären Patienten völlig überfordert.

Seit Jahren war bei der öffentlichen Sozialversicherung, der Sécurité Sociale („Sécu“), wegen der Kostenexplosion und der Riesendefizite Sparen angesagt. Die Grundtarife der Kassenärzte wurden seit 1998 nicht angepasst. Lange hielten sich die Mediziner mit ihren Forderungen zurück. Die meisten von ihnen fühlen sich trotz langer und aufreibender Arbeitszeiten nicht als Unterprivilegierte. Nun aber verlangt der Verband der Allgemeinpraktiker mit Unterstützung der Spezialisten und vieler Spitalärzte die längst fällige „Lohnerhöhung“: mindestens 20 Euro für eine Konsultation in der Praxis und 30 Euro für einen Hausbesuch plus Transportentschädigung. Sozialministerin Elisabeth Guigou hatte diese Forderungen, die ihr zu Folge einem Nachholbedarf von 20 Prozent entsprechen, als maßlos übertrieben bezeichnet.

Unter dem Druck der Ärzte, die aus Protest an den Wochenenden keine Hausbesuche mehr durchführten, stellte der Präsident der nationalen Krankenkassen der „Sécu“ den Ärzten 700 Millionen Euro für die Erhöhung ihrer Honorare in den nächsten drei Jahren in Aussicht. Diese Offerte aber ist weit von den Erwartungen der wichtigsten Berufsverbände der Mediziner entfernt.

Im Vorjahr nahmen die Ausgaben für die Gesundheit insgesamt um 5,3 statt wie geplant um 3,5 Prozent zu. Verantwortlich dafür sind nach Meinung der „Sécu“ nicht in erster Linie die Honorare der Ärzte, die gesamthaft nur um 2,8 Prozent anstiegen. Dennoch sitzen die Mediziner auf der Anklagebank, weil sie weiterhin zu teure Markenheilmittel verschreiben. So stiegen 2001 die Ausgaben für Arzneien erneut um 8,9 Prozent.

Die Regierung befürchtet, dass die Finanzen der Sozialversicherung wieder in die roten Zahlen rutschen. Sie wünscht trotzdem, dass mit einem Kompromiss das kranke Gesundheitswesen rasch wieder auf die Beine kommt.

Die Bewegung der Ärzte wirkt jedenfalls ansteckend: Schon meldeten auch die frei praktizierenden Krankenschwestern sowie die privaten Ambulanzfahrer ihre Forderungen nach höheren Tarifen für Hausbesuche und Leistungen an. Alle Berufskategorien wissen, dass die Regierung nie hellhöriger sein wird für ihre Forderungen als jetzt, drei Monate vor einem wichtigen Wahltermin. RUDOLF BALMER

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