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Ein Feinmechaniker der Polemik und des Angriffs

Wie Pierre Bourdieu in der Berliner Humboldt-Uni einen deutschen Soziologen zurechtwies oder Über das Verhalten von Angestellten im Supermarkt

Es war sehr heiß im Audimax der Berliner Humboldt-Universität. Über tausend Menschen waren im Mai 2000 gekommen, um Bourdieus Vortrag gegen den Neoliberalismus zu hören. Er wusste, dass nur Slogans durchdringen, und sie zu prägen gefiel ihm. Bourdieu polemisierte gegen die Verwandlung der Welt in Waren, gegen die Entlassungsgemetzel in den Fabriken und gegen die modellplatonischen Denker, die es mit luftigen Modellen legitimierten. Scharfe Polemik, aber kein Argument ohne Verweis auf eine empirische Untersuchung. Kein Urteil ohne Zahlen. Danach Diskussion: Ein deutscher Soziologenkollege sagte, ihm sei das Ganze zu antiamerikanisch, über die Verkrustungen in Produktion und Gewerkschaften sei gar nicht geredet worden, und überhaupt: hier fehle nur noch ein Wort, dann sei der Frieden im Saal vollständig – Sozialismus.

Bourdieu versteinerte. Er müsse etwas ausholen. Und dann erzählte er von einer empirischen Untersuchung, die er mit Mitarbeitern über das Kommunikationsverhalten von Angestellten in Supermärkten angestellt habe. Das Resultat sei gewesen: Die Männer redeten viel mehr als die Frauen. Nähere Analysen hätten dann gezeigt: Die Gespräche der Männer seien in hohem Maße repetitiv und selbstbehauptend, die Frauen, die die Codekassen bedienten oder die Regale einräumten, hätten sehr regelmäßig das Wort ergriffen, wenn es um wichtige Entscheidungen gegangen oder wenn ein neuer Aspekt aufgetaucht sei. Ein Verhalten, das er dem werten, eben so empiriefrei dahergekommenen Kollegen doch empfehlen würde.

Pierre Bourdieu: ein zorniger zarter Mann, ein Feinmechaniker der Polemik und des Angriffs. Zudem ein Mandarin, der von unten kam, der seine Karriere lang unter den Großprofessoren gelitten hatte, die in Paris das Klima bestimmten, der nur Verachtung übrig hatte für die Glücksmänner, die mal eben nahezu ohne Landeskenntnis ein dickes Buch über Äthiopien schreiben, oder die Weichsoziologen, die Forschung mit Feuilleton verwechseln, die Grundkategorien ihrer Wissenschaft, Macht und Klasse, aufschäumen zur Belletristik der „Moderne“, der „Zivilgesellschaft“, des dritten Weges.

Bourdieu war ein Aufsteiger, und wie alle Aufsteiger, die nicht ihre Illusionen verloren und den Verlust mit Rang und Geld kompensieren, glaubte er aggressiv an die Werte, derentwegen er gelesen, geforscht, geschrieben hatte. Er hielt Wissenschaft für ein Privileg und Professoren für Bekenner der Wahrheit. Das verpflichte sie zum Kampf.

Vier Jahr zuvor war, auf dem zugigen Gare de Lyon, seine Kampfansage gekommen: Man muss den Neoliberalismus im Allerheiligsten angreifen, beim verkommenen Denken der ideologischen Hohepriester der reinen Ökonomie, ob nun die Chicago-Boys oder ihre Nachbeter. Es kommt auf das laute Denken an. Bourdieu verkörperte das.

Seit 1995 steigerte Bourdieu die Zahl seiner öffentlichen Auftritte, verschärfte, personalisierte seine Angriff auf die europäische Zivilisation, die dem système Tietmeyer zum Opfer falle. Er personalisierte, weil er die Welt persönlich nahm und die Illusion nicht teilen mochte, dass es auf die Einzelnen, auf ihn nicht ankam.

Einige Tage nach seinem Berliner Auftritt beschwor er im Frankfurter Gewerkschaftshaus vegrippt die europäische Einheit der Arbeiter, schwitzend, nervös, mit heiserer Stimme. Anschließend saß man in einem schäbigen Café, dem nächsten eben, zum Interview. Vielleicht helfe es ja alles nicht, aber man könne es nicht kampflos übergeben, sagte er. Und dann: Der europäische Sozialstaat, die Zivilisiertheit unserer Städte – das seien Errungenschaften, „so unwahrscheinlich und kostbar wie Kant, Beethoven, Pascal und Mozart“.

Die Lachfalten, die nach diesem Satz in seinem Gesicht standen, ließen nicht erkennen, ob er glücklich über diesen gelungenen Satz war oder über dessen Wirkung im Gesicht der schönen, sehr jungen Gewerkschafterin, die ihm gegenüber saß. Bourdieu war ein Liebhaber – der Welt. MATHIAS GREFFRATH

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