: Vertrauen in Krisenzeiten
„Página/12“ ist die taz Argentiniens. Mit den Mitteln der Analyse, Kritik und Ironie gewinnt die konzernunabhängige Zeitung gerade in schwieriger politischer Lage an Bedeutung und Auflage
aus Buenos Aires INGO MALCHER
Es gibt Tage, da liegt bereits um die Mittagszeit keine Página/12 mehr am Kiosk. Der 21. Dezember war ein solcher Tag. Der 31. Dezember ebenfalls. Beides Mal war am Vortag ein Präsident in Argentinien zurückgetreten. Zuerst Fernando de la Rúa, dann Adolfo Rodríguez Saá. An solchen Tagen verdoppelt sich die Auflage der Zeitung auf wundersame Weise. Anstatt 65.000 Exemplaren werden etwa 130.000 verkauft.
„Kann sein, dass die Leute uns in Krisenzeiten mehr Vertrauen schenken als anderen und Página/12 einer anderen Zeitung vorziehen. Oder aber, dass viele Leute an solchen Tagen eben mehrere Zeitungen kaufen“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Martin Granovsky. Sicher aber ist: In der Krise gewinnt Página/12 an Bedeutung.
Página/12 ist die taz Argentiniens. Ihre Mittel sind die Analyse, die Kritik und die Ironie. Und an guten Tagen gelingt ihr dies auch. Weil sie an keinen großen Konzern gebunden ist, kann sie frecher sein, kann kritischere Meinungen zu Wort kommen lassen und kann schonungsloser recherchieren. Aber sie kann für ihre Leser auch manchmal ein großes Ärgernis sein, weil manche Nachrichten nicht vorkommen, Geschichten schlecht recherchiert sind oder einfach nur eine ganz falsche Meinung publiziert wird. Auch das macht Página/12 zu einem ganz normalen linksliberalen Blatt mit einer engagierten Leserschaft.
Mit dieser Art von Journalismus macht man sich nicht immer Freunde. Während der Amtszeit von Carlos Menem (1989 bis 1999) schaltete die Regierung keine offiziellen Anzeigen, wie die Fristen für die Zahlung der Steuern, in Página/12. Angefeindet von vielen Seiten wurde das Blatt, als sie die Aufgabe der Peso-Dollar-Bindung für den Außenhandel im Juni 2001 als erste Abwertung bezeichneten. Das war provokant. Doch am Ende haben die Zeitungsmacher Recht behalten, der Peso wurde ein halbes Jahr später tatsächlich abgewertet.
Die Zeitung setzt weniger auf schnelle Nachrichten, als auf Hintergrund und auf Meinung. Im ganzen Blatt sind im Layout Kommentarboxen und -zeilen versteckt. Es wird interpretiert, gemutmaßt, erklärt. Wichtige Themen laufen über mehrere Seiten. Und auch das macht Página/12 aus: Sie ist eine Lesezeitung, keine Bilderzeitung, daher wird auch auf eine sorgfältige Sprache viel Wert gelegt. „Warum passiert etwas, wer hat davon einen Vorteil, was ist davon zu erwarten, das sind Fragen, die unsere Arbeit bestimmen“, so Granovsky. Viele Intellektuelle kommen zu Wort: Eduardo Galeano und Juan Gelman, Miguel Bonasso und Mempo Giardinelli liefern regelmäßig Kolumnen. Aber auch eine wöchentiche Psychologieseite, sowie die wöchentliche Wirtschaftsbeilage Cash, die erfolgreich linke Wirtschaftsberichterstattung betreibt, zählen zu den Eigenheiten der Zeitung.
Die während der Krise gestiegene Auflage gibt diesem Konzept Recht. „Aber der journalistische Erfolg und der wirtschaftliche Erfolg sind nicht das Gleiche“, berichtet Granovsky. Wirtschaftlich hat Página/12 die selben Probleme wie alle anderen argentinischen Unternehmen. Anders als die taz wird bei Página/12 ein Großteil der Einnahmen mit Anzeigen gemacht. Zu Zeiten der Krise aber sind die Anzeigenkunden sparsamer geworden. Sie inserieren weniger und bezahlen dann erst mit Wochen Verspätung. Oder gar nicht. Da in Argentinien Zeitungen nur von Kiosken vertrieben werden dürfen, gibt es keine Abonnoments direkt von der Zeitung. Stattdessen legt der Kioskbesitzer die Zeitung früh morgens vor die Wohnungstüre. Bezahlt wird einmal im Monat am Kiosk in Bar. Aber bis der Kioskchef das Geld eingetrieben hat, das kann eine Weile dauern. Und dann ist noch immer nicht sicher, dass die Einnahmen vom Kiosk auch pünktlich bei der Zeitung landen. Da zur Zeit das Geld knapp ist in Argentinien, sinken auch die Einnahmen bei Página/12 – eben wie bei allen anderen Firmen auch.
Um ein besseres Geschäft zu machen wendet Página/12 schon lange einen Kunstgriff an. Jeden Sonntag liegt der Zeitung eine CD bei, die mit der Zeitung für sechs Pesos zusätzlich gekauft werden kann. Auf eines legt Vizechef Granovsky dabei Wert: „Das ist aber keine Musik, für die man sich schämen muss. Wir suchen sie selbst aus, und es ist Musik, die wir in der Redaktion gerne selbst hören wollen.“ In diesen Wochen wird der Zeitung gerade eine CD-Sammlung des Argentinien-Rockers León Gieco mitgeliefert. Die Bandbreite reicht von Mercedes Sosa über den Buena Vista Social Club bis hin zu einer sorgfältig editierten Tangosammlung.
Die CD-Einnahmen spielen eine wichtige Rolle bei der Zeitung. Denn Página/12 ist wie alle fortschrittlichen Projekte nicht mit Geld gesegnet. Hinter dem Blatt steht kein finanzstarker Apparat, der die Zeitung locker durch die Roten Zahlen lenken könnte. Im Gegenteil: Die Redaktionssäle sehen aus wie der Computerraum einer Schule und kein Redakteur ist dort zu viel – während bei anderen argentinischen Zeitungen im Sportteil 50 Redakteure beschäftigt sind, versuchen bei Página/12 gerade einmal fünf Redakteure diesen Job zu bewältigen.
Weil Página/12 eine unbürokratische Zeitung ist, können Jungjournalisten dort schnell Karriere machen. „Wir sind in den Formen sehr frei, wenn jemand Spaß daran hat und es gut machen kann, dann darf er die ganze Bandbreite abdecken: Titelgeschichten, Infotext, Analyse oder Recherchegeschichten, alles geht“, berichtet Granovsky. Daher ist es kein Wunder, dass Página/12 die Journalistenschule der Nation ist. Regelmäßig wechseln Redakteure zur Konkurrenz, wo mehr bezahlt wird und die Arbeitsbedingungen bequemer sind.
Página/12 ist eine junge Zeitung, der es trotz zahlreicher Krisen gelungen ist sich zu behaupten. Im Mai wird Página/12 15 Jahre jung. Bis heute sind 4.734 Nummern erschienen.
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