: 200 Jahre Geschichte und die Folgen
Fichte im Wasser
Es muss natürlich „Fische im Wasser“ heißen, aber auf Fichte traf das auch einmal zu, insofern er sich 1810 in Berlin mit seinen „Reden an das Deutsche Volk“ zu einer Art Partisanenprediger im anhebenden Volkswiderstand gegen Napoleon aufschwang.
Den Anfang machte praktisch das Freikorps von Schill. Überall, wo es die französische Obrigkeit bedrängte, wurde es begeistert empfangen, aber zugleich ließ es selbst keine Auflehnung der Bürger gegen die Obrigkeit zu. Auch beim Guerillakampf ging Schill noch derart halbherzig vor: Statt im Raum beweglich zu bleiben und Attacken zu reiten oder sich wenigstens in die ostfriesischen Sümpfe zu verdrücken, wie der Freiherr vom Stein ihm mehrmals riet, suchte Schill die Schlacht und verschanzte sich am Ende in der Festung Stralsund, wo seine Aufständischen-Truppe zusammengeschlagen wurde und er den Tod fand. Ähnlich erging es dann dem Freikorps Lützow – seiner „verwegenen Jagd“. Immerhin kam dadurch der „Volksmiliz“-Gedanke von Scharnhorst in Schwung, auch von unten.
In Berlin stellten die Professoren eine eigene Landsturm-Abteilung auf, die sich in den Waffen übte: „Der ideologisch tapfere Fichte erschien bis an die Zähne bewaffnet, zwei Pistolen im breiten Gürtel, einen Pallasch hinter sich herschleppend, in der Vorhalle seiner Wohnung lehnten Ritterlanze und Schild für sich und seinen Sohn“, so zitiert Franz Mehring einen Beobachter, der dazu bereits anmerkte: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es oft nur ein kleiner Schritt.“
In der DDR wurden mit Beginn der Ost-West-Auseinandersetzung um das Was und Wessen des deutsches Erbes – nachdem die BRD sich „verräterisch“ der Nato angeschlossen hatte – Fichte sowie die preußischen Reformer und ihre Partisanenführer bzw. -sänger im antinapoleonischen Befreiungskampf noch einmal üppig rezipiert – und als vorbildlich dargestellt.
In der Wende war es dann der Nürnberger Marxist Robert Kurz, der nachwies, dass die vermeintlich sozialistische DDR Punkt für Punkt eine Realisierung des Fichte’schen „geschlossenen Handelsstaats“ gewesen war. Diese Utopie hatte der Philosoph um 1900 als Konsequenz aus seiner vorherigen Rezeption der Französischen Revolution gezogen. Wobei ihm jedoch, wie schon damals ein Kritiker anmerkte, der wachsende Wohlstand aller wichtiger erschienen war als die Freiheit des Einzelnen. Mit der Wende erwies sich, dass im Zuge einer „Annäherung der Systeme“ auch die BRD tief im Innern nahezu ein geschlossener Handelsstaat geworden war, der erst einige Jahre nach der Wiedervereinigung aufbrach – insofern er sich nicht länger der Globalisierung“ verweigerte – und nach und nach seine Staatsmonopole aufgab.
Nach dem Sieg der antinapoleonischen Kräfte, der in eine Restauration der alten Verhältnisse einmündete, wurde Fichte erster Rektor der Humboldt-Universität. Noch heute ist das dortige Audimax ganz in Fichte gehalten. Bei der Wiedereröffnung der Uni 1945 gab es im Hauptgebäude bereits einen Hausmeister namens Fichte. „Das ist gut, das ist gut“, hatte die Leiterin der Kaderabteilung bei seiner Einstellung gesagt, obwohl Fichtes Akte mehr als lückenhaft gewesen war.
Mit der 10. Feuerbach-These von Marx im Foyer, einer Hegel-Büste vorm neuen Hörsaalgebäude und einem Antifa-Denkmal mitten im Hof wurde das jedoch mehr als wettgemacht. Ich komm da jetzt gerade drauf, weil ich neulich in der Dozenten-Kantine hörte, wie ein Uni-Mitarbeiter einen amerikanischen Gast aufklärte: „Nein, der letzte Rektor hieß nicht Fichte, sondern Fink. Einen Fichte hatten wir hier leider seit fast 200 Jahren nicht mehr. Seitdem geht es auch ständig bergab – mit dem Niveau.“ „Was meinen Sie mit ‚Niveau‘?“ „Das Verhältnis von Theorie und Praxis!“ „Aber es gibt doch auch noch so etwas wie ein Forschungsniveau!“, meinte der Harvard-Ami. „Schauen Sie mal vorsichtig zur Seite – zum Fenster“, flüsterte sein Gastgeber, „sehen Sie dort die zwei Männer?! Das sind Professoren der Universität Bremen. Die kommen oft hierher. Sie wollen unbedingt an die Humboldt-Universiät berufen werden, weil sie meinen, nur wenn sie in Berlin lehren, interessiert sich wieder jemand für ihren Quatsch.“ Der Ami ließ nicht locker: „Es gab aber hier doch wirklich mal Substanz – Mommsen beispielsweise …“
„Ja, der sprach hier zuletzt im Audimax über das Athen der griechischen Philosophen. Die Hörer waren fasziniert, wie er sich da auskannte. Seine Veranstaltungen waren ein Stadtereignis. Mommsen wusste genau, an welcher Ecke sich wer mit wem getroffen und worüber sie geredet hatten. Aber am Ende der Vorlesung musste der Universitätsdiener ihn nach draußen und zu seinem Haus geleiten: Mommsen kannte sich zwar im alten Athen wie in seiner Westentasche aus, aber er wusste nicht mehr, wo er in Berlin wohnte. Seitdem spricht man hier von ‚Spreeathenern‘. Damit sind solche Leute gemeint, die zwar in Berlin leben, aber keine Ahnung davon haben, was wirklich in der Stadt und Drumherum passiert.“
HELMUT HÖGE
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