: Die Bahn plant rückwärts
Stück für Stück, Meter für Meter: Die Bahn verkürzt das Dach des Lehrter Zentralbahnhofs, je nachdem wie schnell die Arbeiten vorwärts gehen. Denn eines ist klar: 2006 soll der erste Zug halten
von MARKUS MÜNCH
Unten ist alles klar. Der Bahntunnel vom Gleisdreieck bis zum Lehrter Stadtbahnhof ist gebohrt und war für einen Tag auch öffentlich zugänglich. 60.000 Berliner sind durch die staubige Baustelle gestiefelt und durften staunen. Auch darüber, wie einfach die Deutsche Bahn in einem Video für Kinder das Projekt Lehrter Zentralbahnhof vorstellte: „An der Kreuzung der Nord-Süd- und der West-Ost-Strecke wird dann ein neuer Zentralbahnhof gebaut. Der alte Bahnhof steht im Weg und muss abgerissen werden.“ Ganz so einfach ist es in der Realität nicht.
„An einer Stelle wird schon gebaut, für die andere läuft gerade das Genehmigungsverfahren und woanders wird erst noch geplant“, erklärt Michael Baufeld, Sprecher des Bauherrn „DB Projekte Verkehrsbau“. Der Bau sei so knapp kalkuliert, dass eine fehlende Genehmigung für einen Bauabschnitt alle folgenden Termin ins Rutschen bringe. So geschehen im vergangenen Juli. Da sollten eigentlich die tragenden Bögen für das Glasdach in Ost-West-Richtung, die „Binder“, aufgestellt werden. Deren Aufbau ist kompliziert, und deshalb müssen sie stehen, bevor darunter Züge fahren dürfen.
Erst heute soll der Bau des Daches beginnen – mit einem halben Jahr Verzögerung. Solche Verspätungen sind für die Bahn eigentlich kein Grund für große Aufregung, gäbe es da nicht die Fußballweltmeisterschaft. Da wird, so will es der Bahnchef Hartmut Mehdorn, eröffnet. „Da gibt es kein Vertun!“ zitierte ihn der Spiegel.
Für die Bauleitung hat das harte Konsequenzen: Dort plant man seitdem rückwärts, erklärt Baufeld. „Wenn der Bahnhof 2006 in Betrieb genommen werden soll, müssen wir spätestens diesen Sommer die Gleise umschwenken.“ Frühester Termin für die Verlegung des Bahnverkehrs von der alten Trasse auf die neue Betonbahn ist der 16. Juni. Dann soll der S-Bahn-Ring geschlossen sein und damit wäre eine Umleitung für den unterbrochenen Zugverkehr vorhanden. Doch vorher muss das Dach stehen. Und da hat sich die Bauleitung einen kleinen Puffer geschaffen: 130 Meter Dach.
Wenn heute der erste Binder verschweißt wird, ist das für ein 430 Meter langes Dach. Das ist der ursprüngliche Entwurf und darunter würde auch ein kompletter ICE passen. „Etwas anderes darf dort auch nicht gebaut werden“, sagt Mark Wille, Sprecher des Eisenbahn-Bundesamtes, das für alle Genehmigungen des Bahnhofs zuständig ist. Gleichzeitig liegt dem Bundesamt aber ein Entwurf für ein kürzeres Dach mit 300 Metern Länge vor. Und der werde wohl auch genehmigt, meint Wille, und dürfe nach einer statischen Überprüfung gebaut werden. Das Prinzip der Bahn heißt also: Bauen solange Zeit ist. Wenn’s passt, wird das Dach 430 Meter lang, wenn es knapp wird nur 300. Die Architekten des Hamburger Büros Gerkan, Marg und Partner sind davon nicht begeistert.
Nach ihren Plänen soll in der Mitte eine Kuppel das Ost-West-Dach ergänzen, an das das Nord-Süd-Dach anschließt. Das wiederum kann erst gebaut werden, wenn die beiden Bügelbauten parallel zur Nord-Süd-Strecke stehen und dafür fehlen der Bahn noch die Investoren. Angesichts so vieler Unklarheiten spricht Baufeld auch nur davon, dass 2006 die „Verkehrsstation funktionstüchtig“ sein solle. Das heißt, auch zur WM werden wohl wieder Tausende durch den Baustaub laufen.
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