: Synapsen stehen auf Dauerrattern
Schauspieler und Zuschauer am Rande ihrer Leistungsfähigkeit: Kaum einer denkt so schnell und assoziativ wie René Pollesch. Ein Porträt des Theaterautors und Regisseurs aus Anlass der neuen Inszenierung in seiner Berliner Hausbühne Prater – „Sex“
von TOM MUSTROPH
René Pollesch ist ein Prediger. Im Gegensatz zu vielen seiner Regiekollegen, die Bild oder Musik bevorzugen, setzt er auf das gesprochene Wort. Auf sein Wort. Über siebzig Stücktexte soll der knapp 40-Jährige bislang verfasst haben. Bei Nachfragen winkt er ab. Das Autorensein ist ihm offenkundig nicht wichtig.
„Ich schreibe keine Literatur. Das ist nicht mein Modell“, sagt er. Legendenumwoben sein Streit mit Mark Ravenhill anlässlich eines Dramatikertreffens. Den Regisseur Pollesch ödet das Auslegen von Texten an. Figuren, die ihre scharfen Konturen über inszenierte Macken erzeugen, langweilen ihn. Seine Stücke sieht er nur ungern in der Hand anderer Regisseure. „Die müssen ihre Funktion damit legitimieren, eine besondere Lesart an die Texte anzulegen und mit Regieeinfällen zu glänzen.“
Eigene Texte hat er Mitte der 90er-Jahre auch nur deshalb ordentlich ausgedruckt und auf Nachfrage an den Rowohlt-Verlag geschickt, weil ihn niemand als Regisseur engagieren wollte und er ja irgendwie die Pizza und die Cola, die er beständig zu sich nehmen soll, bezahlen muss. Das war eine Krisenzeit, wie sie heute niemand bei dem Mann vermutet, der den Prater der Berliner Volksbühne leitet und auch in Luzern, Stuttgart und Hamburg ein viel gefragter Mann ist.
Volksbühnendramaturg Carl Hegemann nennt Pollesch „einen Revolutionär“, der Hamburger Intendant Tom Stromberg „einen Weltenbeschleuniger“ – alles Attribute, würdig eines Superstars, allerdings in einem weitgehend marginalen Genre. Fakt ist: Kaum einer denkt so schnell und so assoziativ wie der gebürtige Hesse; keiner, vielleicht mit Ausnahme von Christoph Schlingensief, vermag diesen „Sturm, der wohl im Kopf eines jeden tobt“, wie er sagt, so präzise und amüsant auf die Bühne zu bringen.
Gelernt hat er das im Institut für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen bei Andrzej Wirth. Man las französische Philosophen und orientierte sich am experimentellen Theater der Beneluxländer. Primärquellen waren weniger Theatertexte, sondern Elemente der Alltagskultur: Comics, Musik, Video, Filme, Fernsehserien. Eine ganze Generation von Theatermachern ist aus dem einst leicht esoterischen Institut hervorgekommen: Autoren wie Tim Staffel und Moritz Rinke, Kompanien wie Showcase Beat Le Mot, She She Pop und Gob Squad. Letztere gelten als Protagonisten eines Poptheaters. Pollesch hingegen muss man zu den dezidiert politischen Köpfen aus Gießen rechnen. Aber inmitten all der Pop- und Medienakteure haben sie besondere Strategien der Vermittlung erlernt.
Polleschs Texte gleichen ungeordneten Bewusstseinsströmen, aufgeteilt auf drei bis vier Figuren. Seine Inszenierungen sind wie wüste Kinderzimmerorgien. Hostessen posieren in Toyota-Showrooms auf Reitsätteln und verkaufen ihren Körper gleich mit. Managerinnen nehmen Drogen, um neue Ideen für die Firma auszubrüten. Manchmal überfallen sie das Publikum auch mit an Luftballons hängenden Fallschirmjägern.
Pollesch variiert Themen wie deregulierte Arbeitsplätze, Verlust von Heimat, Behauptung und Kommerzialisierung von Subjektivität. Zentrales Moment ist der Zusammenhang von Selbstverwirklichung und Ökonomie. Man kann, man darf, man muss den eigenen Träumen hinterherjagen, mobil und schön und klug sein. Und doch – und gerade deshalb – findet man sich immer wieder in einer Matrix der Ausbeutung wieder. Eine Kapitalismuskritik, die die Lektüre von Marx, Adorno und Bourdieu weder verhehlen kann noch will.
Polleschs Trick ist es, den bekannten Redefluss so zu beschleunigen und die Diskurse zu verzwirbeln, dass Schauspieler und Zuschauer an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gelangen. Die Gedankenkaskaden überschlagen sich, die Synapsen sind auf Dauerrattern gestellt. Die Spieler suchen Hilfe bei der Souffleuse, die – mitten im Publikum sitzend – ihnen Texte und Positionen im Raum angibt. Das Verfahren ist offen gelegt, es gibt keine Illusion mehr. Mit dieser Transparenz des Chaos und dem Spiel mit der Überreizung hat sich Pollesch eine Gemeinde herangezogen, die ihm lustvoll bei seinen Streifzügen durch alte und neue Ökonomien folgt.
In seinem jüngsten Stück, „Sex“ (nach Mae West), wendet sich Pollesch der ersten und privatesten aller Industrien zu. Aus den Mündern dreier als Geishas kostümierter Frauen perlen Sätze, die einem Reader aus einem Proseminar in Gender Studies entnommen zu sein scheinen: Frausein sei durch die heterosexuelle Matrix produziert. Diese Matrix und als ihre konsequente Zuspitzung die Pornoindustrie bestimmten, was Sexualität ist. Wirkliche Frauen hingegen wünschten etwas anderes. Sie seien jedoch gezwungen, ihrer Sehnsucht im Rahmen der patriarchalen heterosexuellen Gesellschaft nachzugehen und würden demzufolge in die Rollen von Hausfrau und Hure gedrängt. Ihr Drang nach Selbstverwirklichung werde also zu kommerziellen Zwecken ausgenutzt. Sie selbst fütterten demnach immer wieder die Maschine, deren Wirkung sie sich entziehen wollten.
Gewöhnlich bietet Pollesch seinen Figuren als Ausweg aus dieser Paradoxie – und dem Leiden darunter – die Hysterie an. Im irrationalen Kreischen bricht sich bei ihm gerne fundamentaler Protest gewalttätig Bahn. Analyse, Ohnmacht und Widerstand werden so miteinander verschränkt.
Die Gegenreaktion der Schauspielerinnen Sophie Rois, Caroline Peters und Inga Busch besteht in „Sex“ überraschenderweise nicht mehr im Kreischen. Ihr Fluchtmittel heißt Chloroform. Immer wieder beträufeln sie Taschentücher damit. Aus der Sitzkonstellation brechen sie nur in Schlafwandeln aus. Die Vorstellung wirkt – verglichen mit früheren Arbeiten Polleschs – geradezu defätistisch. Aber vielleicht hat der für seine Schnellsprechorgien bekannt gewordene Regisseur seine Gemeinde einfach nur irritieren und ihr nahe legen wollen, dass ein Pollesch nicht gleich Antiglobalisierungsslogans plus Kreischen ist.
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