: Das Leben hier und anderswo
Der neue Chef Dieter Kosslick will mit deutschem Kino Akzente setzen, weltweit erzählen die Filmemacher von Figuren in Globalisierungskrisen: Heute Abend wird die 52. Berlinale eröffnet
von HARALD FRICKE und CRISTINA NORD
Es war ein Fauxpas, der Moritz de Hadeln nicht verziehen werden sollte. Vor zwei Jahren versäumte der damalige Leiter der Internationalen Filmfestspiele, Oskar Roehlers Spielfilm „Die Unberührbare“ in das Wettbewerbsprogramm der Berlinale aufzunehmen. In den folgenden Monaten überhäuften andere internationale Festivals den Film, den Regisseur und die Hauptdarstellerin Hannelore Elsner mit Auszeichnungen. Nach dem regulären Filmstart im April 2000 waren auch die hiesigen Kritiker voll des Lobes. De Hadeln, dem deutschen Film nie zugeneigt, hatte Roehlers Potenzial schlichtweg übersehen.
Wenn die Berlinale heute Abend zum 52. Mal eröffnet wird, hat ihr neuer Leiter, der von der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen kommende Dieter Kosslick, bereits dafür Sorge getragen, dass ihm ein solches Versäumnis nicht unterläuft. Denn Kosslick mag zwar vieles von de Hadeln übernehmen oder – wie im Fall des neuen Plakatdesigns – nur Änderungen kosmetischer Natur betreiben. In einer Sache indes grenzt er sich klar von seinem Vorgänger ab: in seinem Engagement für das deutsche Kino.
Damit liegt er auf einer Linie mit Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, der zurzeit an einem ehrgeizigen filmpolitischen Konzept arbeitet, das im kommenden Jahr in eine Novelle des Filmförderungsgesetzes münden soll. „Eine Erhöhung der europäischen Filmproduktionen und speziell der deutschen ist schon deswegen kulturell wünschenswert“, heißt es in dem Konzept, „weil die Dominanz des US-amerikanischen Films das Spektrum der im Kinofilm vermittelten kulturellen Inhalte verengt.“ Neu ist dieses Lamento nicht, und es hat Brisanz nur solange, wie es sich nicht in Standortfragen oder der Rede vom Film als nationalem Kulturgut erschöpft.
Vier deutsche Filme laufen in diesem Jahr im Wettbewerb, eine Häufung, die man so seit Jahren nicht gesehen hat. War der Eröffnungsabend im letzten Jahr mit Jean-Jacques Annauds Materialschlacht „Enemy at the Gates“ fehlbesetzt, kommt heute Abend Tom Tykwer mit „Heaven“ zum Zuge, außerdem sind Andreas Dresen („Halbe Treppe“), Dominik Graf („Der Felsen“) und Christopher Roth („Baader“) vertreten. Eine neu eingerichtete und von Alfred Holighaus betreute Programmschiene steht unter dem Motto „Perspektive deutscher Film“. Sie präsentiert elf Arbeiten, darunter vier Debütfilme. Wie bei Festivals üblich, liegen die Auswahlkriterien nicht klar zu Tage, was jedoch in letzter Konsequenz nur Puristen stören muss. „Bungalow“ beispielsweise, das Debüt des 1969 geborenen Regisseurs Ulrich Köhler, läuft nicht in der neuen Reihe, sondern im verdienstvoll von Wieland Speck geleiteten Panorama – obwohl der Film doch vieles von dem enthält, was jüngeres Filmschaffen aus Deutschland kennzeichnet: Dialoge und Plot werden zu Gunsten langer Einstellungen reduziert, eine filmisch unerschlossene Location – in diesem Fall der Lahn-Dill-Kreis – legt sich in sanfte Hügel und liefert damit den Stoff, aus dem sich das visuelle Gedächtnis speist. Ein wenig ist „Bungalow“ wie es die junge Regisseurin Angela Schanelec einmal in einem Interview formuliert hat: „Mich interessiert eher, wie sich Personen bewegen, wie Dinge aufeinander folgen, wie unerwartet das ist. Das Leben ist ja wirklich unabsehbar, und ich finde es schön, wenn das im Film auch so ist.“
Weil Köhler die Dramaturgie vernachlässigt, ohne doch ganz darauf verzichten zu können, verrennt er sich. Dennoch zeigt „Bungalow“, warum es sich lohnt, dem deutschen Kino mit Aufmerksamkeit zu begegnen: Eben weil es in seinen glücklichen Momenten etwas einfängt, was es in dieser Form nur in Wuppertal, Berlin-Reinickendorf oder Mittelhessen gibt – die visuelle Geschichte eines Ortes, einer spezifischen Erfahrung oder eines sozialen Zustands. Wenn junge Regisseure und Regisseurinnen wie Angela Schanelec, Thomas Arslan oder Christian Paetzold überdies eigenwillige Filmsprachen entwickeln, so ist nur zu begrüßen, dass die Berlinale dies abbilden will. Schließlich muss nicht alles, was aus Deutschland kommt, so bodenlos sein wie Joseph Vilsmaiers „Marlene“ oder Oliver Hirschbiegels „Das Experiment“.
Was der Wettbewerb jenseits der deutschen Beiträge bietet, ist eine Mischung aus Alt und Neu, Europa, USA und Asien: Neben Regisseuren wie Zhang Yimou, Robert Altman oder Costa-Gavras ist zum Beispiel der junge US-Amerikaner Wes Anderson eingeladen, der zuletzt mit der schönen, schwarzen Coming-of-Age-Komödie „Rushmore“ auffiel. „Laisser-passer“ von Bertrand Tavernier und „Bloody Sunday“ von Paul Greengrass bürgen dafür, dass politisch heikle Sujets ihren Platz finden.
Veränderungen, die sich langsam vollziehen, hat vor allem die Programmschiene des Panoramas durchlaufen. In den Neunzigerjahren waren dort viele Filme zu sehen, die sich mit den Folgen der Aids-Epidemie beschäftigten. Daraus hat sich eine Plattform für Geschlechterfragen entwickelt, bei denen Vermischung und Transgender-Thematiken im Mittelpunkt stehen. 2002 ist das Panorama nun die Bühne geworden, auf der Rosa von Praunheim mit „Tunten lügen nicht“ Berliner Transvestiten porträtiert und Gabriel Baur mit „Venus Boyz“ eine Gruppe von Dragkings: Frauen, die zu Männern werden. Zwischen diesen Polen variierbarer, konstruierter Identitäten ist wiederum eine ganze Reihe von Filmen angesiedelt, in denen nach dem Alltag schwuler und lesbischer Lebensentwürfe gesucht wird. So berichtet der Norweger Even Benestad in „Alt om min far“ davon, wie sein Vater in einer Kleinstadt als Transvestit zugleich auch als Sexualtherapeut für Kinder arbeitet. Umgekehrt scheint das Coming-out gleichgeschlechtlich liebender Frauen in die bürgerliche Einrichtung der Ehe einzubrechen: Deborah Dickson zeigt in „Ruthie And Connie: Every Room In The House“ zwei jüdische Lesben, die bereits ein Leben mit Ehemann und Kindern hinter sich haben.
Erstaunlich ist dabei, dass die Verschiebung weg von männlich dominierten Plots mit einer schärferen Aufmerksamkeit für die sozialen Ränder der Migration einhergeht. Fast parallel zu den Protesten der Globalisierungskritiker ist nicht nur das Panorama von Figuren bevölkert, die auf Grund wirtschaftlicher und politischer Neuordnungen in eine Krise geraten. Koreaner kommen in Japan nicht mit ihrer Herkunft klar („Go“ von Isao Yukisada), algerische Immigranten müssen in Kanada um ihre neue Staatsbürgerschaft bangen („Tar Angel“ von Denis Chouinard); und in „America So Beautiful?“ des in den USA lebenden iranischen Regisseurs Babak Shokrian begegnet man dem historischen Schicksal junger Iraner, die in den Siebzigern vor dem Schah geflüchtet sind und 1979, unter dem Revolutionsregime des Ayatollah Chomeini, nicht wieder zurück in ihre Heimat wollen. Als einer der Exilanten sein Geld ins boomende Discogeschäft investieren will, kommt es zum Konflikt zwischen Tradition, Moderne und US-Patriotismus – immerhin spielt der Film in jenen Tagen, als islamische Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran besetzten und Geiseln nahmen.
Dass sich eine solche Geschichte nicht nur als Farce, sondern eben doch als Tragödie wiederholen könnte, hat man bereits an den ersten feindlichen Reaktionen auf Muslime im Westen nach dem 11. September gemerkt. Die Situation dürfte sich nach den jüngsten Äußerungen von George W. Bush gegen Irak, Iran und Nordkorea nur schwerlich verbessern.
Das Forum sucht nach ganz anderen Ruinen. Gleich fünf internationale Produktionen setzen sich hier mit den Überresten der Sowjetunion auseinander. Am weitesten dringt der Österreicher Johannes Holzhausen mit seinem Film „Auf allen Meeren“ in die mittlerweile sehr verschlossene postsowjetische Welt vor. Die Dokumentation verfolgt den Werdegang des Flugzeugträgers Kiew, der zwischen 1975 und 1994 das Flaggschiff der Kampfflotte des Warschauer Pakts war. Dann wurden auch die Gelder für das russische Militär knapp. Zuletzt wurde das bald 350 Meter lange Monstrum verschrottet und als Skelett an China verkauft. Holzhausen hat die chinesischen Schlepper beim Abtransport begleitet, zugleich fügt er in Gesprächen mit ehemaligen Kapitänen und Technikern der Kiew ein Panoramabild vom Leben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Militärmacht ein: Ein früherer Offizier verdingt sich heute als Prediger.
Natürlich steht der engagiert und klug erzählte Dokumentarfilm weiter im Zentrum des Forums, auch nach dem Abgang von Ulrich Gregor, der 31 Jahre lang das Programm leitete. Dafür gibt es diesmal den „Fokus China“ mit über einem Dutzend Filmen, die teilweise auf abenteuerlichen Wegen die chinesische Zensur passieren konnten (siehe taz.mag am kommenden Samstag). Mehr zu kämpfen hatte Gregors Nachfolger Christoph Terhechte mit den Forderungen einiger Produktionsfirmen. Nachdem die Mitternachtsfilme im Delphi-Kino zu Publikumslieblingen geworden sind, wollen sich asiatische Verleiher und Produzenten den Spaß an Kung-Fu oder stranger Science-Fiction mittlerweile wie Hollywood-Blockbuster bezahlen lassen. Da diese Rechnung mit dem Budget des Forums nicht zu machen ist, wurde die Hongkong-Action-Schiene um die Hälfte zurückgefahren – auch das ist ein Zeichen der globalisierten Märkte.
Dass man in Berlin trotzdem weiterhin Filme wie Jean Rouchs ethnografische Montage aus griechischer Tragödie und den Alltagsinszenierungen aus dem Niger zu sehen bekommt, ist ebenfalls ein Signal der Berlinale: Mit der Ökonomie rücken auch die Kulturen enger zusammen. George W. Bush und einige andere Profis im Kampf gegen das Böse hätten es vermutlich lieber anders kommen sehen.
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