Das harte Brot der Erkenntnis

Menschen verstehen mehr von der Welt als Vögel. Dass sie dies nicht nur der Sprache, sondernauch Bildern und Musik verdanken, behauptet Matthias Vogel in „Medien der Vernunft“

von DAVID LAUER

Seit den Wissenschaften vom Geiste durch den Kollaps der Gegenüberstellung Geist–Natur der Gegenstand abhanden kam, sind sie auf der Suche nach einem Ersatz für das Verlorene. Zeitweilig glaubte man es im „Text“, später in der „Kultur“ und in den „Praktiken“ gefunden zu haben, doch derzeit sind „Medien“, verstanden als basale, jede Art menschlicher Welterschließung auszeichnende Strukturen, das Zauberwort. Der Titel: „Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien“ signalisiert also ganz großen Anspruch – und ist auch so gemeint.

Der Verfasser möchte auf 400 Seiten eine Theorie der Medien entwickeln, exemplifiziert als Theorie der Kunst, um so die gängigen Theorien des Geistes als Theorien sprachlichen Verstehens durch eine Theorie nichtsprachlichen Verstehens zu ergänzen, wodurch sich eine ästhetisch erweiterte Theorie der Rationalität gewinnen ließe, die der postmodernen Vernunftkritik entgeht und – Luft holen – eine neue Grundlage für das Projekt der Aufklärung böte.

Medien, Kunst, Geist, Verstehen, Rationalität, Vernunftkritik, Aufklärung – darf’s vielleicht noch ein bisschen mehr sein? Das fragliche Werk ist im Übrigen nicht die Summa eines langen Forscherlebens, sondern stammt von Matthias Vogel, derzeit Hochschulassistent in Frankfurt am Main. Unterhalb solcher Globalzusammenhänge macht man es in dieser Stadt einfach nicht. Im Vorwort erklärt Vogel, dass sein Buch die gekürzte Fassung eines viel umfangreicheren Textes darstelle. Dieses Hinweises hätte es nicht bedurft. Der Aufbau des Buches verrät viel von seiner Entstehung: Mehrere überflüssige Referate, von denen Vogel sich offenbar nicht trennen konnte, sind geblieben.

Dafür ist die Auseinandersetzung mit philosophischen Gegnern in anderen Punkten, wo sie unverzichtbar wäre, der Straffung zum Opfer gefallen. Das betrifft etwa die arg pauschale Abwertung der zeitgenössischen Medientheorie, aber auch die merkwürdige Abwesenheit eines Philosophen wie Martin Seel, der lange vor Vogel eine Theorie ästhetischer Rationalität vorgelegt hat. Auch Robert Brandom, dessen Theorie der expressiven Vernunft den gegenwärtig härtesten Probierstein für Vogels kritisches Projekt abgäbe, geistert lediglich in Gestalt hier und da aufleuchtender sprachlicher Glühwürmchen durch das Buch. Trotz dieser Mängel ist „Medien der Vernunft“ ein wichtiges Buch.

Sein Anliegen nämlich ist hoch aktuell: Philosophen wie Brandom beschreiben den menschlichen Geist in Form einer Theorie sprachlicher Fertigkeiten, insbesondere des sprachlichen Verstehens. Die Fähigkeit des Verstehens ist es, was Menschen vor der übrigen Natur auszeichnet – darin kommen Denker wie Wittgenstein, Heidegger, Gadamer, Davidson und Habermas überein. Aber ist damit alles über den menschlichen Geist gesagt? Gibt es nicht auch nichtsprachliches Verstehen, etwa von Musik und Malerei, das einen entscheidenden Beitrag zu dem leistet, was wir Geist und Vernunft nennen? Vogel will zeigen, dass Vernunft in sprachlichen Kompetenzen nicht aufgeht, dass vielmehr Sprache nur eins unter vielen Medien der Vernunft ist.

Das schreibt sich leicht hin, kommt aber doch einem Sakrileg gleich, wenn man sich (wie Vogel) mit dergleichen nicht die Exkommunikation aus der interaktionistisch-pragmatischen Sprachphilosophie einhandeln will. Also gilt es, Begriffe zu etablieren, die in dieser Tradition bisher als Unding galten, zum Beispiel vorsprachliche musikalische Gedanken. Dabei verdient die handwerkliche Präzision Respekt, mit der Vogel die Werkzeuge einer streng analytischen Philosophie gegen deren eigene Dogmen einsetzt (auch wenn sein Hang zu Klassifikationen sich gelegentlich verselbstständigt). „Medien der Vernunft“ ist ein hartes philosophisches Brot, und nur in der weiteren Diskussion wird sich zeigen, ob es bekömmlich ist. Es enthält aber zumindest wichtige Bausteine zu einem medienphilosophischen Ansatz, um die gängigen sprachfixierten Theorien des Geistes zu knacken. Stimmt diese Vermutung, so wird Vogels Buch noch eine Rolle zu spielen haben.

Matthias Vogel: „Medien der Vernunft“, Suhrkamp (stw), Frankfurt am Main 2001, 427 Seiten, 13 €