: Im Stahlwerk
Fokus China: Wang Bing dokumentiert in „Tiexi Qu“ (Forum) den Niedergang eines Industriedistrikts
Hat man bei Dokumentationen nicht oft das Gefühl, die üblichen 90 Minuten genügten nicht, und man könnte leicht noch drei Stunden weiter schauen? Die fünf Stunden, die der chinesische Dokumentarfilm „Tiexi Qu“ dauert, wirken da wie ein Versprechen. Und tatsächlich wird es von Wang Bings Film gehalten. Seine Videodokumentation über die Rückseite des ökonomischen und gesellschaftlichen Umbruchs in China zeigt dessen enorme menschliche Kosten. Und dabei sind die fünf Stunden nur ein Splitter aus dem Bild, das die Stahlhütten, die Kupfer-, Blei- und Zinkgießereien im Industrierevier Tiexi abgeben.
Als der 1967 geborene Filmemacher Wang Bing 1999 zu drehen beginnt, sind große Teile des Industriekonglomerats schon still gelegt. Die erste Einstellung führt gleich ins Dunkel eines alten verrotteten Pausenraums. Man wird in Bings Film noch viele solcher Aufenthaltsräume kennen lernen und viel Zeit in ihnen verbringen, denn die Arbeit ist spärlich geworden, weil kein Material mehr nachkommt, es wird ja eh dichtgemacht. Die Arbeiter sitzen also in den Pausenräumen und warten, sie essen, sie rauchen und dann unterhalten sie sich, sprechen über die Lage ihrer Betriebe, spekulieren darüber, ob es sich lohnt, sie noch einmal zu sanieren. In einer gewissen Hilflosigkeit erledigen sie die Managementaufgaben, die die Funktionäre der staatlich geführten Industrien zu machen versäumt haben.
Die gigantisch anmutenden 300 Minuten entsprechen den gigantischen Ausmaßen der Industrieanlagen, die im Film zu sehen sind. Sie entsprechen einem ebenso gigantischen Niedergang. Ungefähr eine Million Menschen sind in dieser Region im Nordosten Chinas, die für das Land so etwas gewesen sein muss wie das Ruhrgebiet für Deutschland, heute arbeitslos. Über das Desaster wird öffentlich allerdings nicht debattiert. Wang Bings Reise ins Sheng-Yang-Stahlwerk in Tiexi ist ein mutiger Akt der Solidarität, der im politischen Alltag Chinas ungewöhnlich ist und der zu entsprechend ungewöhnlichen Bildern führt.
BRIGITTE WERNEBURG
„Tiexi Qu“. Regie: Wang Bing. China 2001, 300 Min.
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