: Auf Herzbube programmiert
■ O-Town, O-Town: Zwei Silben und unzählige weibliche Kehlen, die sie bis zur Ohnmacht kreischen. Die fünf MTV-Stars standen im Teddibär-Regen
Der diensthabende Arzt vom Roten Kreuz durfte nichts verraten. Keine Auskünfte, nicht einmal, ob viel oder wenig zu tun war an diesem Abend. Zwei Trassen hatten sie quer durch das Publikum gebaut, um die kollabierten Mädchen bergen zu können - das sah nach guter Planung aus. So ist das, fast vierzig Jahre später: Als es in den 60ern mit den Beatles anfing, war die Bezeichnung Boygroup noch nicht erfunden. Und das Kollabieren war noch nicht einkalkuliert.
Überhaupt war damals einiges anders. Zum Beispiel gab es noch kein Farbfernsehen. Und das ist ganz entscheidend für die Karriere der amerikanischen Chart-Breaker von O-Town: Wie die deutschen No Angels wurden sie in einer TV-Serie geboren. MTV America hatte aus zweitausend Bewerbungen Kandidaten ausgewählt, die Woche für Woche vor den Augen der Fernsehzuschauer auf ihre Star-Tauglichkeit geprüft wurden. Am Schluss blieben fünf übrig und waren Stars, noch bevor sie erste Single aufgenommen hatten.
Für den O-Town-Import nach Europa hat MTV eine zweite Staffel des Reality-Formats „Making the Band“ produziert: Die Fans sollen auf dem laufenden bleiben, sollen wissen, wie die Jungs leben, was und wen sie lieben. „Making the Band“ entwikkelte sich zu einer Art Big Brother des Popgeschäfts. Fünf gut aussehende, knackige Boys, die tanzen, singen und auf dem Weg nach oben sind - nie war das Kreischen der weiblichen Fans besser programmiert, als bei O-Town.
Als der Vorhang im Pier 2 fiel, warfen die Mädchen ihre Teddibären auf die Bühne, als wär`s ein Reflex. Das Phänomen ist bekannt. Aber warum nur müssen es ausgerechnet Teddibären sein? Ein symbolischer Akt, die Kindheit zu beenden und in die Pubertät einzutreten? Kann nicht sein, denn in der Pubertät, da sind sie längst. Die Mädchen handeln zielgerichtet: Der Teddi ist nur ungefährliches, charmantes Trägermaterial für den Brief, die Botschaften und die Handy-Nummer, die irgendwo am Teddi befestigt ist. Und die hoffentlich ankommt beim jeweiligen Herzbuben von O-Town.
Aber Ashley, Erik, Dan, Trevor und Jacob haben keine Zeit, sich um Teddis zu kümmern. Sie haben einen Job, und der fordert sie völlig. Der Großteil der eineinhalb Stunden ist durchchoreografiert, mal mit Headset, mal ohne, entscheidend ist: Kein Stillstand. Die fünf Smarties haben hart trainiert. Und sie haben darüberhinaus gefeilt an ihrem individuellen Profil. Das ist wichtig, denn echte Fanliebe gährt erst dann, wenn den Einen in der Gruppe gibt.
So kommen kleine Soloauftritte zustande, bei denen die fünf ihrem individuellen Musikgeschmack gemäß Stücke covern. Da versucht sich dann einer beispielsweise an Purple Rain von Prince und dabei wird klar, dass eben nicht alles geht: Telegen sein ist die eine Sache, eine Stimme mit Prince-Qualität zu haben, die andere. Satzgesang für MTV-Charts, das klappt. Eine Solokarriere hat bei O-Town aber keiner vor sich.
Muss ja auch nicht. Denn die Show klappt und die Band, die sie dabei haben, ist so kurios wie gut: Weißhaarige Herren mit Bauchansatz und Stiernacken spielen da im Hintergrund Bass, Gitarre, Schlagzeug und zwei Keyboards. Die alten Hasen machen den Radio-Pop funky, sie holen die Studioproduktionen mit viel Groove auf die Bühne, und das hat Klasse. Auch wenn niemand im Pier 2 auf die Idee gekommen ist, wegen ihnen zu kreischen. Jakob Flex
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen