: „Barbarei“ aus Machthunger
Gestern wurde vor dem UNO-Tribunal in Den Haag der Prozess gegen Slobodan Milošević eröffnet. ChefanklägerinCarla del Ponte beschuldigt den Expräsidenten Jugoslawiens der „schlimmsten der Menschheit bekannten Verbrechen“
von ROLAND HOFWILER
Mit der Verlesung der Anklageschrift begann gestern der erste Verhandlungstag im Prozess gegen den ehemaligen serbischen Staats- und Parteichef Slobodan Milošević vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Chefanklägerin Carla del Ponte, die das Verfahren eröffnete, warf dem Angeklagten vor, aus reinem Machthunger Hunderttausenden von Menschen „unsägliche Leiden“ zugefügt zu haben. Er habe die „schlimmsten der Menschheit bekannten Verbrechen“ begangen, sagte Del Ponte und bezeichnete Slobodan Milošević als den Hauptverantwortlichen für „mittelalterliche Barbarei und kalkulierte Grausamkeit“. „Das Tribunal, und insbesondere dieser Prozess“, erklärte die Schweizer Juristin weiter, „ist der stärkste Beweis dafür, dass niemand außerhalb des Rechts und jenseits der Reichweite der internationalen Gerechtigkeit steht.“
Ankläger Geoffrey Nice übernahm fortan das Wort und holte mit seinen Ausführungen weit aus. Er begann seinen Vortrag mit dem Tod Titos im Mai 1980, wodurch die staatliche Struktur Jugoslawiens als Vielvölkerstaat tief erschüttert worden sei, um nach mehreren Stunden beim Kosovo-Luftschlag der Nato im Jahre 1999 sein Resümee zu ziehen.
Milošević müsse schuldig gesprochen werden, da er Verbrechen nicht verhindert habe, von denen er Kenntnis gehabt habe. „Wusste er davon? – Natürlich“, sagte Nice und verwies auf Berichte, die im Präsidentenbüro eingegangen seien, und auf die heimische Presse, die aus internationalen Zeitungen mehrmals Reportagen über Gräuel serbischer Truppen an Zivilisten übernommen hatte.
Nicht nur in diesem Punkt blieb Ankläger Nice recht oberflächlich. Die serbische Presse hatte sich nicht gescheut, während all der Kriegswirren aus westlichen Medien zu zitieren. Die Menschen in Serbien waren also „informiert“, nicht nur ihr Präsident. Doch all diese Berichte wurden als „Übertreibungen“ und „Lügenmärchen“ abgestempelt, auch von oppositionellen Zeitungen.
Die Anklage versuchte ihre Anschuldigungen regelmäßig durch Bild- und Fernsehbeiträge zu erhärten. Das brachte in die langatmigen Ausführungen Nice’ etwas Abwechslung. Vor allem aus BBC-Fernsehberichten wurde mehrfach zitiert, nicht immer mit Bezug auf Milošević. Da wurde etwa der Freischärlerführer Arkan mit seinen Trupps gezeigt, ohne auf die Frage einzugehen, ob Arkan im Auftrag Milošević’ gehandelt hatte oder aus freien Stücken.
An einigen Stellen wurden die Ausführungen sogar äußerst schwammig und ungenau. Nice ging beispielsweise lange auf das legendäre Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften von 1986 ein, worin die namhaftesten Gelehrten Serbiens die „Versklavung des Serbentums“ in der damals von Belgrad verwalteten, mehrheitlich albanisch bewohnten Provinz Kosovo beklagten. In dem Memorandum kommen erstmals Forderungen nach einem künftigen Großserbien auf und wird an die politische Führung in Belgrad appelliert, notfalls gewaltsam gegen „Separatisten“ und „Irredentisten“ vorzugehen.
Bewiesen ist jedoch, daß Milošević diese Schrift in seiner Funktion als Belgrader Spitzenfunktionär der damals allein regierenden Kommunistischen Partei, als „Ausgeburt des serbischen Nationalismus“ brandmarkte.
Bis heute ist nicht geklärt, wann sich Milošević erstmals mit den Mitgliedern der Serbischen Akademie zusammensetzte und die Ideen der Memorandumverfasser übernahm.
Falsch ist jedoch – so zumindest belegen es alle heute öffentlich einsehbaren Quellen –, was Nice vor dem Tribunal erklärte: „Milošević hat 1986 das Memorandum gutgeheissen.“ Man kann gespannt sein, ob das UNO-Tribunal für diese und andere Anschuldigungen die Beweise in den kommenden Monaten wird erbringen können.
Milošević jedenfalls zeigte sich gestern während der gesamten Verhandlungsdauer ausgesprochen konzentriert, machte mehrmals Notizen und schien sich auf seine Verteidigung gut vorbereiten zu wollen.
Bislang wurden bei Verfahren vor dem UNO-Tribunal in Den Haag für die Verlesung der Anklage und die erste Aussage des Angeklagten zum Prozessauftakt normalerweise jeweils ein Tag veranschlagt. Das jetzige Verfahren könnte den gängigen Zeitrahmen aber sprengen. Einer von Milošević’ Rechtsberatern, Zdenko Tomanović, kündigte gestern an, sein Mandant werde „mindestens einen Tag“ für seine Eingangserklärung brauchen. Schließlich werde der Expräsident nicht nur sich selbst verteidigen, sondern auch das serbische Volk, den Staat und die Kriegspolitik der damaligen Regierung. Zu allen diesen Punkten wolle sich Milošević „detailliert“ äußern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen