: Die EU drückt ein Auge zu
Der Kommission genügt es, wenn die deutsche Regierung ihre Anstrengungen verstärkt, unterhalb der Drei-Prozent-Marke Neuverschuldung zu bleiben
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Zum hoffentlich letzten Mal hat die Bürgerschaft von Euroland gestern in die Brüsseler Schulstube geblickt, wo sich seit Wochen ehemalige Musterschüler und enttäuschte Oberlehrer miteinander streiten. Zwar hat Währungskommissar Pedro Solbes seinen blauen Brief bis zum letzten Augenblick verteidigt. Doch in der Nacht zum Dienstag überzeugte der ehemalige Musterschüler Hans Eichel seine Finanzministerkollegen aus der Eurozone davon, die Frühwarnung der Kommission ungelesen in den Papierkorb zu schmeißen.
Stattdessen gab der Rat aller 15 Finanzminister gestern einstimmig eine Erklärung ab. Sie beginnt mit dem schönen Satz, dass „der Rat den Frühwarnmechanismus als einen wesentlichen Teil des Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ betrachte. Die Kommission habe also mit ihrer Empfehlung für einen blauen Brief getreu der im Pakt vorgesehenen Prozeduren gehandelt. Gleichwohl genüge es, wenn die deutsche Regierung ihre Anstrengungen verstärkt, innerhalb von 3 Prozent Neuverschuldung zu bleiben. Sie werde zu diesem Zweck im Jahr 2002 die Entwicklung auf allen Regierungsebenen – auch in den Bundesländern und im Sozialversicherungssystem – „sorgfältig beobachten“. Damit sei das Frühwarnverfahren „geschlossen“.
Finanzminister Eichel mühte sich gestern in Brüssel stoisch, den Vorgang als deutschen Erfolg und als „Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ herauszustellen. Fragen danach, ob Deutschland nicht eine in einer Ratsverordnung ausdrücklich vorgeschriebene Prozedur sabotiert habe, beantwortete er mit vagen Hinweisen auf „die Interpretation im juristischen Dienst meines Hauses“.
Aus Sicht der deutschen Rechtsexperten habe Finanzkommissar Solbes einen Ermessensspielraum gehabt, den er nicht genutzt habe. Die Kommission sei da allerdings anderer Meinung. Tatsächlich machte Solbes’ Sprecher Gerassimos Thomas gestern nochmals deutlich, dass sein Chef die Ratsentscheidung als klaren Verstoß gegen den Stabilitätspakt betrachtet. In Brüssel geht man allgemein davon aus, dass künftig jedes verschuldete Land die Selbstverpflichtung als ersten Schritt des Frühwarnsystems reklamieren wird.
Der österreichische Finanzminister Karl-Heinz Grasser, der am Montag noch öffentlich gegen Deutschlands sture Haltung protestiert hatte, schwenkte gestern auf die offizielle Sprachregelung ein: „Dieses Gelöbnis reicht aus und entspricht inhaltlich dem, was die Kommission verlangt hat“, behauptete Grasser. Er konnte sich dann aber die Bemerkung doch nicht verkneifen, Hans Eichel habe in Brüssel „statt des blauen Briefs ein blaues Auge kassiert“. Deutschland habe schwere wirtschaftliche und finanzpolitische Versäumnisse zu verantworten. „Es tut auch Österreich weh, wenn die deutsche Wirtschaftspolitik zum Bremsklotz wird.“ Immerhin habe sich Deutschland nun verpflichtet, nicht erst 2006, sondern schon 2004 einen nahezu ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Dass diese Verpflichtung unter einem großen Vorbehalt steht, machte der deutsche Finanzminister aber ganz deutlich. Nur für den Fall, dass 2,5 Prozent Wachstum erreicht werden, könne Deutschland den „nahezu ausgeglichenen Haushalt“ bereits 2004 zusagen. Vorgezogene Steuersenkungen und andere Wahlgeschenke werde es in diesem Wahljahr ganz sicher nicht geben.
Eichel berichtete, er habe am Montag mit den Länderfinanzministern beraten, wie im Rahmen von Länderfinanzausgleich und Solidarpakt ein nationaler Stabilitätspakt geschmiedet werden könne. Denn manche Länder wie zum Beispiel Berlin und Niedersachsen hätten im vergangenen Jahr gemessen am Etat drei Mal so viele neue Schulden gemacht wie der Bund. Die neuen Bundesländer hingegen hätten Schulden abgebaut. Wirtschaftsvertreter und Oppositionspolitiker sagten gestern voraus, das deutsche Manöver werde den Euro schwächen. Der konservative Europaabgeordnete Karl-Heinz Florenz verpackte seine Warnung sogar in lyrische Worte: „Der Euro ist eine junge Pflanze. Aber anstatt sie zu hegen, trampeln Schröder und Eichel wild auf ihr herum und bedrohen damit aus wahltaktischen Gründen die Stabilität der Gemeinschaftswährung.“
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