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Politisiertes Gemüse

■ Oder die Entdeckung der Vernunft im 18. Jahrhundert

Wie ermöglicht man BürgerInnen niederen Standes 1788 das Zeitungslesen und vermittelt ihnen dadurch aktuelles politisches Wissen? Ganz einfach: Man schenke sein Blatt den Marktverkäufern, damit die Obst und Gemüse darin einwickeln. Hermann Werner Dietrich Braess, der Herausgeber der „Roten Zeitung“, sorgte auf diese Weise dafür, dass eines der wohl bedeutendsten volksaufklärerischen Blätter in den Haushalten derjenigen landete, die keine höhere Bildung genossen hatten.

Holger Böning, Mitarbeiter am Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen, könnte noch unzählige Beispiele nennen, wie die Volksaufklärer aus der Not eine Tugend machten. Seiner Meinung nach bildeten sie die größte Bürgerinitiative des 18. Jahrhunderts. Hinter ihr verbarg sich ein Zusammenschluss tausender aufgeklärter Naturwissenschaftler, Ärzte, Beamte, Schulmeister und besonders Geistlicher beider Konfessionen. Sie wollten dem gemeinen Volk erstmals das Wissen vermitteln, über das die „reichen Leute mit Beutelperücken, Manschetten und die Weiber mit den großen Hauben“ bereits verfügten. In Form von Katechismen, Erzählungen, Romanen, Dialogen oder Gedichten wandten sich die Aufklärer in nahezu 20.000 Schriften an die niederen Bevölkerungsschichten.

Gemeinsam mit dem Institut für Deutsche Philologie an der Universität Freiburg haben Holger Böning und Reinhard Siebert diese Literatur gesammelt. Gerade sind zwei Bände erschienen, die diese Schriften bibliographisch ordnen und kommentieren. Die Bücher haben einen Umfang von fast 2000 Seiten. Meistgelesen waren im 18. Jahrhundert also nicht etwa Goethe oder Schiller, sondern landwirtschaftliche Anleitungen zu Fütterungsmethoden, medizinische Katechismen über den Aderlaß oder Empfehlungen dahingehend, dass der Blitzableiter als moderne Errungenschaft zum Schutz vor Gewitterschäden wesentlich sinnvoller sei als das bis dahin übliche Glockengeläut. Fernab von teuflischen Fausten und Gretchen wurde auf diese Weise mit beachtlichem persönlichem Engagement und oft unter großen finanziellen Opfern gesellschaftliche Bildung betrieben.

Doch was der Bauer nicht kennt frisst er nicht. Anschaulich schildert Böning das hohe Maß an Kreativität und Geschick, mit dem die Aufklärer ihre Schriften verbreiteten. So verteilte man sie als Prämien oder integrierte sie in Kalender, da diese meist das einzige Buch darstellten, das in jeder Familie zu finden war. Oft vereinte man auch Spannung, Spiel und Belehrung und erfand Gruselgeschichten, die erzieherische Inhalte vermittelten. Auf diese Weise enstand die Konzeption des „unterhaltsamen Volksbuches“, zu dessen erfolgreichstem Vertreter mit etwa einer halben Million Exemplaren ab 1788 das „Noth- und Hülfsbüchlein“ Rudoph Zacharias Bechers wurde.

Indem sich die Volksaufklärer über tradierte Denkmuster hinwegsetzten und scheinbar Wertlosem einem Wert zuerkannten, legten sie nach Ansicht Bönings den Grundstein der ständelosen Gesellschaft. Er vergleicht die Reformbewegung in ihren Denk- und Handlungsansätzen auch mit der heutigen Entwicklungshilfepolitik. Vielleicht könnten wir diese durch einen Blick in seine bibliographische Sammlung sogar noch weiterentwickeln?

Beatrice Kleinert

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