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Das Reich der Mittel

Sag es mit der Digitalkamera: Die unabhängigen Filme im „Fokus China“ erzählen vom Umbruch der Gesellschaft und wie Geld Geschichte(n) macht

von BRIGITTE WERNEBURG

Eine Raubkopie von „Seafood“ (Haixian) wurde offensichtlich auch gleich gemacht. Beim Rausgehen aus dem Kino konnte man einen jungen Mann beobachten, der seine Videokamera starr zu Leinwand gerichtet hielt, wobei die rote In-Betrieb-Lampe deutlich leuchtete. Der Abspann dürfte auf seiner Kopie etwas löchrig sein, wegen der Leute, die an seiner Kameralinse vorbeiliefen; eine Menge Lacher, aber auch empörtes Schnauben sind ebenfalls auf seinem Band dokumentiert. Denn „Seafood“ hält für seine Zuschauer einige böse Überraschungen bereit.

Verantwortlich dafür ist Deng (Cheng Taisheng), der korrupte Polizist, der Seafood für das Heilmittel aller Probleme hält. Unmengen davon vertilgend, versucht er, die 21-jährige Prostituierte Xiaomei (Jin Zi) von ihrem Selbstmord abzuhalten, wobei er skrupellos den eigenen Vorteil sucht. Mit seinem extrem intelligenten Drehbuch und dem raffinierten Spiel seiner Hauptdarsteller gelingt dem Regisseurs Zhu Wen die Figur eines großen Zynikers, gegen den Harvey Keitel in „Bad Lieutenant“ wie eine Betschwester wirkt.

Immerhin, die Prostituierte Xiaomei bringt letztlich nicht sich, sondern Deng um. Doch am Ende beginnt auch sie, auf die wohltätige Wirkung von Meeresfrüchten zu setzen, in die sie gemeinsam mit einer Kollegin einen gefälschten 100-Yuan-Schein umsetzt.

Meeresfrüchte machen glücklich, so Deng, weil nur Reiche sie sich leisten können, und Reiche sind, wie man weiß, glücklich. Geld bewegt die Welt: Nach der Auseinandersetzung mit Geschichte, Ideologie, Kommunismus und Partei, die die so genannte Fünfte Generation chinesischer Filmemacher führte, wie etwa Chen Kaige, Zhang Yimou oder der etwas jüngere Zhang Yuan (für dessen 1999 in Venedig preisgekrönten Film „Seventeen Years“ Zhu Wen das Drehbuch schrieb), ist das neue chinesische Kino beim eigentlichen Thema angelangt, das China bewegt: beim Geld.

Geld ist nicht einfach ein Gegenstand wie eine Digitalkamera. Seine Funktion, das zeigt die „Fokus China“-Reihe auf der Berlinale, wurde von einem Heer von jungen, intelligenten chinesischen Filmemachern so rasch erschlossen, dass einem fast schwindlig wird. Geld produziert komplexe soziale Beziehungen. Und wenn Geld vielleicht nicht Geschichte erzeugt, dann eben viele Geschichten. Geschichten, wie sie „Seafood“ von den perverseren Deals erzählt.

Geld gliedert in den gesellschaftlichen Mainstream ein, es repräsentiert dessen Ideen, dessen Konsum und Arbeit, vor allem aber dessen Korruption.

Wang Quan'an hat diese Korruption in seinem Film „Yue Shi“ („Mondfinsternis“) mit dem Verrat der Liebe an das Geld gleichgesetzt. So unprätentiös das Buch, die Kameraarbeit und die Montage von „Seafood“ sind, so aufwendig, so verrätselt und selbstreferenziell ist „Mondfinsternis“: Ya Nan, die reich geheiratet hat, begegnet Xiaobin, der sie und ihre echte Liebesgeschichte freilich schon längst fotografiert hat.

Die Bilder, die im Westen schon lange als die Kehrseite des Geldes gelten, des Goldes, auf dessen Rückseite sie als Herrscherporträts historisch erstmals massenmedial in Umlauf gerieten, scheinen bei den jungen Chinesen noch immer ihren wahren (und nicht Waren-)Wert zu besitzen. Das rührt auch daher, dass sie tatsächlich nicht in Umlauf kommen: Fast keiner der dreizehn Filme, die hier in Berlin zu sehen sind, wird in chinesischen Kinos gezeigt werden; kaum einer der Regisseure hat sich um die Freigabe durch die Behörden bemüht. Filmemachen ist in China eine Angelegenheit, die weitab vom System der staatlichen Hochschulen und der Zensurbehörden stattfindet.

Die digitale Videokamera und der Computer als Schnittplatz stehen findigen Leuten überall zur Verfügung, und der Austausch der eigenen wie der raubkopierten Filme der anderen geschieht in eingeweihten Kreisen. Das macht es dem Staat auch möglich, über die neue Bewegung hinwegzusehen, war bei einer Diskussion mit Autoren und Regisseuren zu hören. Mit dem Filmemachen in China scheint es wie mit dem Haschischrauchen in Deutschland zu sein: Es ist nicht legal, aber es hat längst eine gesellschaftliche Tradition, unter Kontrolle zu bringen ist es jedenfalls nicht mehr.

Das Geld setzt auch jedes Jahr tausende von Landarbeitern in Bewegung, die Sichuan verlassen, um in der 3.000 Kilometer entfernten Provinz Xinjiang Baumwolle zu ernten.

Die Regisseurin Ning Ying, die diese Zugreise mitgemacht hat, ist definitiv das größte Talent unter den Dokumentaristen, die bei der Berlinale im „Fokus China“ präsentiert werden. Wie sie die Provinzler beim Erstürmen des Zuges filmt ist von einer ehrenhaften Komik, dazu einer visuellen Dramatik, die kaum zu überbieten sind. Und wie sie die Leute dann noch zum Sprechen bringt – das muss man gesehen haben. Trotz Aids, Obdachlosigkeit, lesbischer Sexualität, all der wichtigen Themen, die die Dokumentationen zeigen: „Reise der Hoffnung“ ist der Filmfilm.

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