: Bewegtes Leben
Über die manische Sesshaftigkeit des modernen Menschen. Nichtsnutzige Betrachtungen zum Thema Umziehen
von VERENA KERN
Unterwegs sein, das ist ohne jeden Zweifel die Schlüsselattitüde des modernen Menschen. Heute in Berlin, morgen in Tokio, übermorgen im Schwarzwald. Am Morgen ein Meeting mit dem Kollegen X, am Mittag ein Meeting mit dem Kollegen Y, abends eine Verabredung in der Bar Z, und zwischendurch bimmelt immerzu das Handy, während außerdem die Mailbox überquillt. Unterwegs sein ist ein Imperativ, eine Gier, eine Sehnsucht.
In der Mobilität erkennt unsere Gesellschaft einen ihrer höchsten Werte. Die flächendeckende Verbreitung und Inanspruchnahme von Personenkraftwagen, mobiler Telefonie oder regelmäßigen Fernreisen kündet von einem Bewusstsein, das Unterwegs-Sein für so selbstverständlich und notwendig nimmt wie Essen, Trinken, Schlafen. Ich bewege mich, also bin ich.
So sehr gehört Mobilität mittlerweile zum allgemeinen mentalen Inventar, dass der moderne Mensch sein Sein als Nomadentum zu chiffrieren gelernt hat. Er ist einverstanden, wenn das Notebook, das er benutzt, als „Computer für moderne Nomaden“ bezeichnet wird und die variablen Containerelemente, die er demnächst kaufen soll, als „Möbel für moderne Nomaden“. Autohersteller werben um die begehrten hochqualifizierten Mitarbeiter, indem sie ihnen in Aussicht stellen, sich an der Überwindung von Raum und Zeit beteiligen zu können. Selbst die Baufinanzierer haben sich längst Argumente zurechtgelegt, warum eine Immobilie sehr wohl zum heutigen Nomadenmenschen passt.
Recht haben sie, und zwar so sehr, dass es fast unheimlich ist. Denn die Mobilitätsverherrlichung der Moderne geht zusammen mit einer ans Manische grenzenden Aversion gegen das Umziehen, den Wohnungswechsel an und für sich. Das ist beileibe kein Widerspruch. Im Gegenteil.
Tag für Tag ist nur 0,1 Promille der deutschen Bevölkerung bereit, ihre Stadt zu verlassen, ihr Dorf, ihre Gemeinde, ihr Bundesland gar nur 0,03 Promille. Die große Mehrheit klebt an ihrer Scholle, gleichgültig, ob sie sich im eigenen Besitz befindet oder nur gemietet ist, lediglich ein paar Dutzend Quadratmeter umfasst und vermutlich nicht einmal über einen Balkon, einen Garten, eine Terrasse verfügt. Hochgerechnet wechselt jeder von uns nur alle 27 Jahre den Wohnort, also höchstens dreimal im Leben. Umziehen ist definitiv keine Lieblingsbeschäftigung des modernen Menschen.
Tatsächlich gibt es kaum ein Phänomen des alltäglichen Lebens, vor dem er sich derart gruselt wie vor dem Umziehen. Die Wohnungseinrichtung demontieren, die Möbel zerlegen, Schrauben aus den Wänden drehen, alles in Kartons verpacken, es wenig später wieder auspacken und neu arrangieren, Schrauben wieder in Wände drehen, Möbel wieder zusammenbauen, der Verlust des gewohnten Umfeldes, die Mühen und der erhebliche zeitliche Aufwand von Renovierungsleistungen, Behördengängen und der Notwendigkeit, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, tagelang, vielleicht wochenlang in einem Zustand des Nicht-Mehr und gleichzeitig des Noch-Nicht leben müssen – es ist ein Horror, der nur durch existenzielle Katastrophen wie Unfall, Trennung, Tod in den Schatten gestellt wird.
Als so gravierend wird der Problemdruck empfunden, dass eine umfangreiche Beratungsliteratur jenen zur Hand zu gehen verspricht, die trotz allem nicht darum herumkommen, einen Umzug auf sich nehmen zu müssen. Kinderbücher zum Thema versuchen, auch den Kleinen über den Schock des Wohnortwechsels hinwegzuhelfen, und enden doch gerne mit Sätzen wie: „Sie fühlen sich sehr wohl in ihrem neuen Zuhause und wollen nun nie mehr wegziehen.“ Studien über die Ursachen diverser Zivilisationskrankheiten haben Wohnungswechsel als belastenden und damit krankheitsauslösenden Faktor identifiziert. Und dass ein Umzug den menschlichen Serotoninhaushalt in Unordnung bringt wie sonst nur handfeste Depressionszustände, gilt als ausgemachte Tatsache.
Es kommt wie eine handfeste Paradoxie daher: Mobilitätssucht und Umzugsverweigerung scheinen auf keinen Fall kompatibel (weswegen oft argumentiert wird, sie seien verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuzuordnen). Tatsächlich aber sind sie die beiden Seiten ein und derselben Medaille.
Denn die Umzugsverweigerung ist nicht etwa Ausdruck einer kategorischen Unbeweglichkeit, auch nicht Ausdruck des dringenden Wunsches, unter allen Umständen behaust zu sein und auch behaust zu bleiben in unwirtlicher Zeit und unwirtlicher Welt. Sie ist Ausdruck der höchsten Form von Mobilität. Sie ist der definitive Sieg über Zeit und Raum.
Im Umzug aber steckt die Niederlage. Der tiefe Fall in eine unvermeidliche Konkretion, das Ende der Schwerelosigkeit. Umzüge handeln vom Notwendigen, nicht vom Möglichen. Sie werden als etwas erlebt, das den Lebensfluss unterbricht, mindestens bremst, das einengt und für einen gewissen Zeitraum unbeweglich macht, als Zwang, noch einmal bei null anzufangen, ähnlich wie beim Monopoly, wenn es heißt: Gehe zurück auf Los. Das zweckoptimistische Trostpflaster aller Wohlmeinenden, wonach in jedem Neuanfang auch eine Chance liegt, wird mühelos als solches identifiziert.
Mag ja sein, dass man gern woanders wäre, dass man sich einen Neuanfang wünscht. Aber einen Umzug an und für sich möchte man auf keinen Fall absolvieren, weil er jede Abstraktion unmöglich macht, weil er die Existenz in die Beschränkungen von Raum und Zeit zurückführt, und das kränkt den Menschen, denn er mag es nicht, begrenzt und festgelegt zu sein, und sei es von etwas so Naturgesetzhaftem wie Zeit und Raum. Gerade davon nicht.
Seit jeher strebt der Mensch nach Entfesselung, von Traditionen, Vorgaben, Tabus. Er kann es nicht dulden, dass Endgültiges und Unveränderliches ihn begrenzen könnte. Sein Selbstbild verlangt nach der unaufhörlichen Bewegung, nach dem unendlichen Weiter! Weiter!
Mit dem elektrischen Licht hat er sich die Nacht als Bewegungsraum erschlossen, mit Flugzeugen den Himmel, mit Raketen den Weltraum und mit dem Auto auch den unwegsamsten Winkel der Erde. Mit Computertechnik, Internet und Mobilfunk schnürt er die Welt zum globalen Dorf und die Zeitzonen zu seiner eigenen Zeit zusammen. Mit plastischer Chirurgie und mit Gentechnik erweitert er die Möglichkeiten seines stofflichen Seins. Die Figur des Aufsteigers ist ihm soziales Ideal, die Idee permanenter Bildung und fortwährender Selbstoptimierungsbemühungen plausibel und sinnstiftend.
Was in früheren Zeiten einzelnen Privilegierten vorbehalten war, ist in der Moderne zum Allgemeingut geworden und hat durch die Technisierung des Alltagslebens eine Dimension erreicht, die den Versuch, die Fesseln des Seins zu negieren, als glückende Operation erscheinen lässt. So glückend, dass es dem modernen Menschen gelungen ist, sich einen Lebensstil der unbedingten Sesshaftigkeit anzueignen und ihn mit einer Ernsthaftigkeit, die ihresgleichen sucht (und derer man sich nur befleißigt, wenn es um existenzielle Fragen geht), als unverzichtbaren Bestandteil eines bewegten Lebens zu verteidigen.
Denn es ist ja wahr: Wer sesshaft ist, ist nicht im Raum, er ist an einem Ort. Wer keinen Ort hat, der muss im Raum sein, auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen, in der Natur, im Niemandsland. Es ist kein Zufall, dass Flüchtlinge, Migranten und Obdachlose die großen Leidensfiguren der Gegenwart sind. Niemand wird mehr bemitleidet als sie, niemand wird mehr gemieden, als könne ihr Schicksal ansteckend sein wie eine Krankheit.
Nicht anders ist es mit der modernen Mobilität. Es geht nicht um ein räumliches Erlebnis, es geht um die Loslösung von Raum und Zeit, darum, Entfernungen hinter sich zu bringen – und gut.
Es ist der Weg in die große Abstraktion, und das ist das Problem. Denn der Mensch ist und bleibt ein konkretes Wesen, wie man an seinen Versuchen, den Mangel an Konkretion zu kompensieren, unschwer ablesen kann. Extremsportarten, Tätigkeiten, die unter dem Begriff „Shopping“ zusammengefasst werden können, oder jene eigenartige Tendenz von Leuten jenseits der dreißig, die eigene Wohnung zum Spiegelbild persönlicher Herrlichkeit aufzurüsten, wohl um zu dokumentieren, was sich im Lauf des Lebens ganz konkret angesammelt hat.
Die Leistung, die der moderne Mensch erbringt, um einerseits sich von der Welt zu abstrahieren und andererseits doch in der Welt sein zu können, ist enorm. Und enorm ist auch die Absurdität des ganzen Unterfangens. Sie zeigt, dass der Mensch in der Welt nicht zu Hause ist. Er hat einfach Angst.
VERENA KERN, 37, ist taz.mag-Redakteurin. Sie entstammt einer fränkischen Artistenfamilie und trat als Kind im elterlichen Wanderzirkus als Tigerdompteurin auf. Nach einem Arbeitsunfall Mitte der Achtzigerjahre kehrte sie dem Zirkusleben den Rücken und ist seitdem noch mehr als zwei Dutzend Mal umgezogen, zuletzt kurz vor Weihnachten. Von Tigern hält sie sich inzwischen fern
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