: Wir sind die Welt
Gefährlicher Patriotismus in der Weltgesellschaft: Ihr ironiefreies Beharren auf die eigene Stärke weist die USA als zutiefst verunsicherte Nation aus
von PETER FUCHS
Nach den Ereignissen vom 11. September 2001 ist deutlicher als je zuvor geworden, dass die USA Patriotismus für eine (auch massenmedial gern inszenierte) Tugend halten, die eine angemessene Reaktion auf die Komplexität der modernen Gesellschaft darstellt. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass in dieser Inszenierung auf ironische Brechung Wert gelegt wird oder gar darauf, dass Patriotismus ohne Scham eigentlich kaum gepflegt werden könnte, wenn man daran denkt, dass alle Nationen dieser Erde auch Schändliches in ihrem historischen Gepäck haben, das jeden aufflammenden Stolz auf die je eigene Nation sofort kontaminieren müsste. Nationalhymnen, Nationaldenkmäler, nationale Heroismen und Symbole müssten eigentlich, so sehr sie ins Licht gerückt werden, das Licht scheuen wie die Vampire. Sie erregen immer den Gegensinn des Grauenhaften, das unter dem Namen dessen, was sie feiern, tatsächlich geschehen ist.
Das gilt auch für die USA (man müsste nur Hiroshima und Nagasaki zitieren), deren gleichsam rustikaler Patriotismus allen Anlass zum Staunen gibt. Er ist offenbar emotionssatt und analysefern.
Unter solchen Umständen kann es sinnvoll sein, daran zu erinnern, dass der Patriotismus beileibe keine Erfindung der US-Amerikaner, sondern eine Entwicklung der europäischen Frühmoderne darstellt. Er ist, als er entsteht, entschieden feiner gestrickt, als sein ferner amerikanischer Nachhall vermuten lässt. Er unterscheidet, wenn man Dirk Richter folgt („Nation als Form“, Westdeutscher Verlag, Opladen 1996), die eigene Nation, das eigene Volk auf eine spezifische Weise von anderen Nationen und Völkern dadurch, dass er das Eigene als positiv ansetzt, das Fremde als negativ, aber so, dass trotz der Differenz friedliche Koexistenz als möglich gedacht wird. Patriotismus ist (diesem Konzept nach) auf einen „Allgemeinsinn“ hin orientiert, der deutlich kosmopolitische Züge trägt.
Der Patriot geht auf im Dienst für sein Vaterland, aber dient genau deshalb den anderen Vaterländern mit. Sein Vaterland wäre nicht sein Vaterland ohne andere Vaterländer, sein Volk nicht sein Volk ohne andere Völker. Insofern wird im frühmodernen Patriotismus die Differenz noch immer als Einheit gewürdigt – auf eine mitunter betuliche, mitunter emphatische Weise, in Deutschland nicht selten biedersinnig bis zur intellektuellen Erstarrung, aber eben doch: kriegsfern, ohne Vernichtungswillen.
Wir wissen heute, dass diese Semantik sich nicht hat durchhalten lassen, wiewohl sie immer wieder einmal bei Festreden aufgegriffen wird. Durchsetzungsfähiger war (und ist) der Nationalismus, der sich der Form nach behauptet, indem er die Gegenseite des Eigenen entweder der eigenen Welt unterordnet (erobert) oder sie zu eliminieren trachtet. Nationalismus ist der Tendenz nach ein Universalismus. Er zelebriert Superiorität. Die eigene Nation ist die Welt, und was sich dieser Idee nicht unterordnet, ist minderwertig, feindselig, vernichtungsbedürftig. Die eigene Nation ist bestimmt (von wem auch immer, am besten von Gott selbst) zur Souveränität über alle und alles, aber sie ist ebendeshalb alles andere als souverän im Umgang mit sich selbst und anderen. Sie hat einen Wertekosmos (oben Gott, dann das WIR, dann der Rest), der sich nur stabilisieren lässt, wenn man Feinde hat, feindselig sein darf, sich verteidigen, angreifen und erobern muss. Und sie ist in genau dieser Hinsicht kognitionsfeindlich, angewiesen auf unterkomplexe Weltdeutungen und deswegen dankbar für die Möglichkeit, Symbole akquirieren zu können, die so viel bedeuten, dass sie nichts bedeuten. Die Fahne vom Ground Zero, das Mythologem der Achse des Bösen, die ungezählten Hände auf den Herzgruben stehen dafür ein.
Das alles wäre trivial, wenn man sich nicht die Funktionsfrage stellen könnte. Wie ist es möglich (und welchem Zweck kann es dienen), in der modernen Weltgesellschaft unter der Formel des Patriotismus einen Nationalismus zu reanimieren und zu stabilisieren, der der Form dieser Gesellschaft nicht mehr angemessen zu sein scheint?
Mit Dirk Richter lässt sich vermuten, dass die hoch komplexe, durch und durch auf Kontingenz (also auch auf Risiko) angelegte Form der modernen Gesellschaft eine Art der Kommunikation begünstigt, die Orientierung, Bestimmtheit, Ordnung verspricht, Kommunikation ohne Ambiguitätstoleranz, mit einem Wort: Kommunikation, die an die Stelle der ordnungsstiftenden (bestimmenden) Funktion der alten Weltmythen tritt.
Die Gesellschaft ist differenziert nach Funktionssystemen, deren Kommunikationsströme frei fluten und sich an Selbstbeschreibungen insulärer Segmente wie Nationen nicht orientieren, Kommunikationsströme, die heute von Organisationen organisiert werden, nicht von Imaginationen, die die Staaten von sich entwerfen, wenn sie sich Nationen nennen. Die Probleme, die sich gesellschaftlich einstellen, sind die Probleme, die durch Funktionssysteme auf eine schwer fassbare, analytisch unendlich schwer zu begreifende Weise ausgeworfen werden. Es sind Probleme, die auf Desorientierung hinauslaufen, zirkuläre Probleme, die sich nicht auf Kausalitäten der einfachen Art herunterbrechen lassen. Man kann sie nicht im Schema der Vertrautheit fassen, nicht in dem der Übersichtlichkeit, auch nicht in dem Schema der Unübersichtlichkeit, für das der Ausdruck Postmoderne mehr schlecht als recht einsteht. Es sind Probleme neuartigen Typs, für die neue Sprachen und Kalküle gesucht und mitunter ansatzweise gefunden werden, Probleme, für die kognitive (kontingenzbewusste) Komplexität aufgebaut und unterhalten werden muss, von der sich, wie man vielleicht am Rande bemerken darf, die neuere deutsche Hochschulpolitik nicht den Ansatz einer Vorstellung macht.
Das schreit, versteht sich, nach Simplifikation, nach der Transformation von fundamentaler Unsicherheit in Kausalitätssicherheit, nach Grenzen, auf deren Innenseite das Sichere, Wahre, Gute besteht, auf deren Außenseite sich das Chaos breit macht. Das entspricht der alten These vom Nationalismus als Ersatzreligion und würde – moderner ausgedrückt – die Funktion haben, anders mögliche Kommunikation zu limitieren, um Kontingenz zu blockieren.
Das erklärt auch die Präferenz des Nationalismus für Symbole, die – sprachlos, also ohne Negationsmöglichkeit – die Authentizität, die unbestreitbare Geltung, die fungierende Ontologie der einen superioren Nation inszenieren. Das erklärt auch, dass die eine superiore Nation die Konflikte, an denen sie parasitiert, selbst erzeugen muss. Sie braucht Bedrohungszustände – nur deswegen funktionieren die Symbole.
Wären Nationen Menschen, fände man, dass Nationen, die auf all das angewiesen sind, schwach, unsicher und deswegen (mit Adorno) zutiefst autoritär sind. Vätern, die brüllen müssen, fehlt womöglich die Kraft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Das kann man schärfer stellen, aber hier und in diesem Medium bleibt nur Raum, um eine Pointe zu setzen, nämlich die, dass das Segment der Weltgesellschaft, das als das eigentlich moderne und weltoffene Segment gepriesen wird – als Vorreiter, in dessen Umwelt nur Nachzügler vorkommen, die seiner Segnungen noch nicht teilhaftig geworden sind –, dass die USA also in Wahrheit ein Nachzügler ist, der in der Moderne noch nicht ansatzweise angekommen zu sein scheint. Eine Nation, die sich scham- und ironiefreien Patriotismus gönnt, ist noch nicht hier, sie tanzt noch nicht im Jetzt. Sie schlurft – patriotisch – hinterher.
Allerdings, und der Gerechtigkeit halber: Sie teilt dieses Schicksal mit den aufflammenden Nationalismen auf der ganzen Welt. Was die USA auszeichnet, ist jedoch die Drohmacht, über die sie verfügen. Patriotisch verbrämter Nationalismus, gepaart mit Macht – das ist auf Dauer kreuzgefährlich. Man kann das wissen und weiß es auch im Rest der Welt: Patriotismus ohne Kontingenzbewusstsein – das ist nicht nur anachronistisch, es erzeugt Furcht vor dem, was die Geschichte bringen wird.
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