piwik no script img

Das serbische Volk hört Milošević wieder zu

Der Auftritt von Jugoslawiens Expräsident vor dem UNO-Tribunal bringt in Serbien hohe Einschaltquoten und schürt antiwestliche Gefühle

BELGRAD taz ■ Gestern war Nationalfeiertag in Serbien. Millionen Menschen saßen zu Hause vor dem Fernseher, hörten stundenlang Slobodan Milošević zu, sahen sich sein arrogantes und herablassendes Benehmen gegenüber den Richtern und den Anklägern des Haager Tribunals an. Vier TV-Sender in Serbien übertragen den Prozess live, darunter auch der Staatsrundfunk. Schon beim ersten Auftritt des gestürzten Expräsidenten Serbiens und Jugoslawiens stiegen die Einschaltquoten durchschnittlich um fünfzehn Prozent und das mit wachsender Tendenz.

„Die meisten Menschen beobachten den Prozess wie ein Spektakel, kümmern sich recht wenig um Milošević’ Schicksal“, sagt Meinungsforscher Srbobran Branković. Es sei allerdings zu erwarten, daß dieser Prozess die alten antiwestlichen Gefühle bei vielen wieder anheizen würde. So unehrlich Milošević’ Argumentation auch klingen möge, wenn er über die Luftangriffe der Nato gegen Jugoslawien, die vielen zivilen Opfer und die Zerstörung von zivilen Objekten spreche – in Serbien höre sich das „sehr glaubwürdig“ an.

Der Psychologe Zarko Trebjesanin spricht von einer „Scheingleichgültigkeit“ der Öffentlichkeit gegenüber dem ehemaligen Volksführer. Viele Menschen, die für Milošević gewesen seien, verdrängten nun diese Erinnerung, um sich von den eigenen Schuldgefühlen zu befreien.

Milošević’ Auftritt ist in erster Linie an das serbische Auditorium gerichtet. Er spielt wieder den starken Mann, der für die Interessen des serbischen Volkes kämpft, er verwandelt die Anklage gegen sich in eine Anklage gegen die Nato. Nach dem Motto „ein Volk, ein Land, ein Führer“, gelingt es ihm, von der Anklagebank aus bei vielen Serben das Gefühl zu wecken, dass nicht ihm, sondern dem ganzen Volk der Prozess gemacht würde.

„Wenn sich dieses komische Tribunal schon mit den Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien befasst, dann sollten die Kommandanten der Nato und die Chefs der Mitgliedsstaaten neben Milošević auf der Anklagebank sitzen“, meint ein pensionierter Offizier der jugoslawischen Armee. Schließlich habe die Nato 1999 die Stadt Niš mit den „von der Genfer Konvention verbotenen Clusterbomben“ bombardiert.

Die verunsicherte Gefolgschaft von Milošević fasst wieder Mut. Die Leiterin des Belgrader Zentrums für „Kulturelle Dekontaminierung“, Borka Pavicević, erhielt am Donnerstag Morddrohungen – weil sie den Prozess im Fernsehen kommentierte und auf all die unter Milošević begangenen Verbrechen hinwies, die auch heute noch in Serbien totgeschwiegen würden.

Milošević’ Auftritt stärkt auch die um Staatspräsident Vojislav Koštunica versammelten national-konservativen Kräfte, die das Haager Tribunal als eine „politische Institution“ bezeichnen. In dieser Situation wird es für den prowestlich orientierten Premier Serbiens, Zoran Djindjić, immer riskanter, andere Angeklagte dem Tribunal auszuliefern. Eines hat der eitle Milošević jedenfalls schon jetzt erreicht: Das serbische Volk hört ihm wieder zu. ANDREJ IVANJI

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen