: „Die EU muss Opfer bringen“
Interview ALEXANDRA KLAUSMANN
taz: Herr Pithart, in wenigen Tagen nimmt der EU-Konvent, der eine europäische Verfassung ausarbeiten soll, seine Arbeit auf. Geht die Nachkriegszeit erst mit diesem Schritt zur europäischen Einigung, an dem erstmals auch die osteuropäischen Beitrittsländer teilnehmen dürfen, zu Ende?
Petr Pithart: Ich bin davon überzeugt, dass die Konsequenzen des letzten Kriegs noch sehr lebendig sind. Vor allem in Südosteuropa. Solange Europa nicht gemeinsam und mit eigenen Mitteln imstande ist, den schwelenden Brandherd in diesem Teil der Welt zu löschen, so lange wird der Rauch des Krieges noch in der Luft hängen. Ich glaube, der EU-Vertrag von Maastricht wird als eine Zäsur angesehen, nicht nur weil sich Europa dort auf die Währungsunion geeinigt hat. Es ist mindestens genauso wichtig, dass sich Europa auf eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik verständigt. Als es auf dem Balkan wirklich ernst wurde, blieb nichts anderes übrig, als sich auf die amerikanische Luftwaffe zu verlassen. Ich hoffe, dass sich solch eine Situation nicht noch einmal wiederholt. Also: Ja, der Krieg endet erst jetzt.
In der Tschechischen Republik ist die Idee einer europäischen Föderation nicht besonders populär. So hat zum Beispiel Ludvík Vaculík, Schriftsteller und Freund Václav Havels, der EU vorgeworfen, ein neues Protektorat im Osten schaffen zu wollen.
Vaculík kann ich natürlich nur widersprechen. Ich habe ihn auch schon dafür kritisiert, dass er so starke Worte benutzt hat. Die Bezeichnung „Protektorat“ bedeutet bei uns etwas sehr Konkretes, das nicht nur diejenigen, die es miterlebt haben, heute noch mit Grauen erfüllt. Nach dem Prager Frühling wurde bei uns künstlich eine Föderation installiert, das hat damals nur einigen naiveren Slowaken zugesagt. Im Jahre 1992 ist die Tschechoslowakische Föderation dann auseinander gefallen. Eine Föderation wird bei uns fälschlicherweise als Lösung der Nationalitätenfrage verstanden und nicht als Element der vertikalen Aufteilung der Macht, so wie es zum Beispiel in den USA oder der Bundesrepublik funktioniert. Es wird viele Auf- und Erklärungen brauchen, um unserer Bevölkerung diese richtige Funktion der Föderation klar zu machen. Andererseits wird unsere Bevölkerung noch lange sehr skeptisch gegenüber jeglicher Integration sein. Einige werden sich bei der weiteren Integration der EU an den Warschauer Pakt erinnert fühlen. Diese typisch tschechische Vorsicht, hinter der sich wie bei einem Tierchen, das oft von einem stärkeren Raubtier angefallen wurde, ein Selbsterhaltungsreflex verbirgt, gehört schon zu unserem Blick auf die Welt. Da kann man so schnell nichts machen.
Die EU will die Bauern Osteuropas erheblich geringer subventionieren als die der Altmitglieder. Könnte diese Ungleichbehandlung nicht schwere Auswirkungen auf das gesamte Projekt der Osterweiterung haben?
Das sollte sie sogar und wird sie auch. Ich habe so ein bestimmtes Gefühl und wäre froh, wenn mir das jemand widerlegen könnte: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat Europa die grundlegenden Motive seiner Integration vergessen. Wenn Europa sich wirklich erweitern und nicht nur seinen Markt vergrößern will, dann wird es dafür auch etwas zahlen müssen. Wir sollten uns bewusst werden, wie wertvoll die Osterweiterung sein kann: Wir bringen einen größeren Markt und dadurch auch fettere Profite und einen höheren Lebensstandard. Dadurch, dass Europa sich in seine bislang ungefestigten Ränder ausbreitet, bekommen wir größere Sicherheit. Und all das soll nichts kosten? Das geht einfach nicht. Ich glaube, gerade das könnte unser tschechischer Input in die Debatte über die Zukunft der Union sein. Wir erinnern uns lebhafter als im Rest der EU daran, das alles seinen Preis hat, vor allem Freiheit und Sicherheit. Wir können auch das Wort „Opfer“ nicht aus unserem Sprachschatz streichen. Denn für ein Ziel, für einen bestimmten Wert lohnt es sich, Opfer zu bringen – und ein sicheres Europa hat einen sehr hohen Wert.
Ihre klare Position gegenüber der EU sowie Ihr juristischer Background prädestinieren Sie ja geradezu zu einer Mitarbeit im EU-Konvent. Warum hat Tschechien nicht Sie entsandt?
Es gab schon einen Zeitpunkt, zu dem ich damit gerechnet hatte. Dann haben wir uns aber für eine mehr oder weniger symmetrische Lösung entschieden und haben in beiden Parlamentskammern vergleichbare Vertreter für den Konvent gewählt. Ich bin allerdings Mitglied des Unterausschusses für europäische Integration, der eine Stütze für unsere Delegierten im Konvent darstellen soll. Das heißt, ich werde mich auch weiterhin in dieser Frage engagieren.
Welche Position soll Ihrer Meinung nach der Entsandte des tschechischen Senats, Exaußenminister Josef Zieleniec, im Konvent vertreten?
Ich hoffe, dass Josef Zieleniec diese Gelegenheit nutzt, um zu einer gewissen Korrektur der EU-Strukturen beizutragen. Man sollte nämlich vorsichtiger mit Wörtern wie Verfassung oder Föderation umgehen und angemessenere Bezeichnungen finden. Ich persönlich finde, dass die heutige Unionssprache ein Jargon nur für Eingeweihte ist. Es ist auch ein Anzeichen dafür, dass sich der europäische Kreis in sich zusammenschließt, und nicht dafür, dass er sich erweitert. Denn dieses Kauderwelsch stellt eine Barriere für Außenstehende dar, die es einfach nicht verstehen. Ich halte die Sprache Brüssels für sektiererisch, und das nehme ich der Union übler als irgendwelche angeblichen Einmischungen in unsere Angelegenheiten.
Das Europäische Parlament sollte sich also in die Angelegenheiten der Beitrittsländer einmischen dürfen? Von der Tschechischen Republik hat es ja die Aufhebung der Beneš-Dekrete zur Vertreibung gefordert.
Ganz prinzipiell gesehen glaube ich, dass es europäischen Institutionen erlaubt sein muss, bestimmte Entwicklungen in Mitgliedsstaaten zu kritisieren. Diese ganzen Aufforderungen oder die Bedingungen Österreichs im Zusammenhang mit dem tschechischen AKW Temelín können ihr Ziel aber nur verfehlen. Die Meinung der tschechischen Öffentlichkeit über das, was sich hier 1945 ereignet hat, ändert sich mehr und mehr. Und ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Prozess nicht dadurch beschleunigt werden kann, dass irgendjemand etwas beschließt. Ich kann mir zwar vorstellen, dass durch diese Beschlüsse unsere Politiker in einen gewissen Handlungszwang kommen. Sie würden aber keinen wirklichen Wert haben. Das Problem der Vergangenheitsbewältigung ist im Übrigen nicht nur ein ausschließlich tschechisches. Wichtig ist, dass sich an ihm nicht nur Parlamente und Politiker beteiligen. Was den Begriff „Beneš-Dekrete“ betrifft, so lenkt er von den eigentlichen Begebenheiten ab. Schließlich war das nicht irgendein Beneš, sondern unser Präsident, der diese Dekrete während des legislativen Notstands nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst hat. Wenn man „Beneš-Dekrete“ sagt, ist das, als ob man den Zweiten Weltkrieg ausließe.
In der deutsch-tschechischen Erklärung heißt es, dass die Zukunft nicht mehr durch Fragen der Vergangenheit belastet werden soll. Dennoch kocht die Vergangenheit immer wieder hoch. Warum ist es bislang noch keinem tschechischem Politiker gelungen, die Frage der Beneš-Dekrete ein für alle Mal zu lösen?
Immer wieder kommt aus dem Ausland die Forderung nach Aufhebung der Dekrete des Präsidenten Beneš. Das ist aus juristischer Sicht nicht möglich, weil sie Teil unserer Nachkriegsgesetzgebung sind. Das Münchner Abkommen wurde von Deutschland auch nie aufgehoben, darauf könnten wir schließlich auch bestehen. Aber das ist genauso unmöglich. Im Übrigen kann man nicht leugnen, dass die Beneš-Dekrete im Sinne der Sieger des ZweitenWeltkriegs waren. Premier Zeman hat festgestellt, dass die Beneš-Dekrete erloschen sind. Was die Juristen noch klären müssen, ist, dass daraus keine rechtlichen Folgen entstehen. Den Politikern kann dann eine Bewertung des Ganzen überlassen bleiben; was bei diesem Prozess aber kontraproduktiv ist, ist Druck.
Was halten Sie persönlich von der Idee einer tschechischen Entschädigung für vertriebene Sudetendeutsche?
Bei der Diskussion um die Entschädigung geht es ja um einige Sudetendeutsche, die keine Nazis waren und die nicht von den deutschen Entschädigungszahlungen berücksichtigt wurden. Ich persönlich sehe nichts Negatives an einer symbolischen Entschädigung. Dabei sollte es nicht um die Zahl der Entschädigten oder die Höhe der Entschädigungssumme gehen. Sondern um eine entgegenkommende Geste.
Morgen wird Bundesaußenminister Joschka Fischer Prag besuchen. Dabei handelt es sich um eine Stippvisite kurz vor Ende der Legislaturperiode. Hat die rot-grüne Regierung die deutsch- tschechischen Beziehungen vernachlässigt?
Ich finde, sie hat sich wenig um dieses zarte Pflänzchen gekümmert. Das ist schade, weil in beiden Ländern gerade Sozialdemokraten an der Macht sind. Andererseits hat die deutsche Regierung ihre Probleme zuHause. Was zählt, ist, dass der Kontakt auf anderer Ebene läuft, zwischen Historikern, Christen, Jugendgruppen und so weiter.
Werden rein bilaterale deutsch-tschechische Beziehungen im vereinigten Europa überhaupt noch einen Stellenwert haben?
Aber sicher! Allein die Tatsache, dass wir eine sehr lange Grenze mit dem deutschen Sprachraum teilen, wird sich mit unserem EU-Beitritt nicht verändern.
Anfang kommenden Jahres endet die Amtszeit Präsident Havels. Sie gelten als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge. Haben Sie überhaupt Interesse am höchsten Amt?
Ich bin bereit, dafür zu kandidieren.
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