: Monolith mit Mittelfinger
von WIGLAF DROSTE
Es wird an fünfzigsten, sechzigsten und siebzigsten Herrengeburtstagen so viel zusammengelogen, dass selbst Menschenkenner noch staunend „Hut ab!“ sagen. Mit solchem Er-ist-ein-großer-Mann-Zeug will ich nicht dienen – mich nur bedanken bei Johnny Cash. Da er mich nicht kennt, weiß er es nicht, aber er hat mir das Leben gerettet, sogar zweimal. Ohne die Texte, die seine Stimme sang, wäre ich nicht davongekommen.
Im Spätherbst 1994 schickte mir der Schweizer Radiokollege und Freund Christian Gasser zwei Kassetten, die mein Leben mit großem Reichtum erfüllen: „Sad but true“ von Beast-of-Bourbon-Sänger Tex Perkins, eingespielt mit Charlie Owen und Don Walker, und „American Recordings“ von Johnny Cash. Der Horizont riss auf, Lebenswahrheit flog mir entgegen. Es war alles, worauf ich gewartet hatte, Musik, die man zum Leben so nötig hat wie Brot und Wein und Liebe.
Wegen meines Textes „Der Schokoladenonkel bei der Arbeit“ lauerten mir 1995 Leute im Dreidutzendpack bei Lesungen auf und brüllten „Täterschützer!“ und „Faschist!“ Vermummt und mit Knüppeln bewaffnet gingen sie auf mich los, im Namen des Feminismus drangsalierten sie weibliches Publikum. Sie versuchten, Lesungen mit Buttersäure zu sprengen, spuckten, sprühten Tränengas in Gesichter und entblößten durch das Ausbringen von sorgfältig gehütetem Eigenkot auch den Inhalt ihrer Köpfe. Es war ekelhaft und zermürbend, aber eins wussten sie nicht: Ich hatte Liebe im Gepäck und Johnny Cash, Trost und Rat in reinstmöglicher Form. „I don’t have to do that any more / I’m like a soldier getting over the war“, sang Cash. Ich begriff: Nichts von dem, was diese Glaubenskrieger auf mich ausgossen, hatte mit mir zu tun, nichts von ihnen konnte mich wirklich berühren. Der Bariton von Johnny Cash füllte mich aus, sie hatten keine Chance.
Dann sah ich Cash, am 28. September 1995, im Tempodrom in Berlin. Viel zu spät erst hatte ich von diesem Konzert erfahren, Karten waren nicht mehr zu bekommen, auch auf dem Schwarzmarkt nicht. Jeden Preis hätte ich gezahlt, es nutzte nichts, aber ich musste Cash sehen, und so log ich mich ins Konzert. Ich rief im Tempodrom an und sagte, der Spiegel schicke mich. Zwar schrieb ich damals tatsächlich das eine oder andere Stück für die Brandstwieties, aber Cash war kein Thema für sie. Um Cash sehen zu können, hätte ich mich auch als Reporter vom Smith & Wesson Magazine ausgegeben, sonstwas, alles eben. Ich ging zu dem Konzert so aufgeregt und nervös, wie man zu einem Rendezvous mit einer Frau geht, von der man schon weiß, dass man rasend in sie verliebt sein wird.
Es war – grandios. Auf der Bühne stand: Der Mann in Schwarz. Er wirkte alt und krank und strahlte doch eine völlig natürliche, ruhige, selbstverständliche Größe aus. Mein erster Begriff von Johnny Cash war Würde, und bis heute kenne ich kein gültigeres Wort für ihn und seine Songs. Das Publikum war äußerst gemischt, Fransenjacken- und Cowboyhutträger waren zuhauf gekommen und verlangten permanent, „Ring of Fire“ zu hören, seinen Hit von 1963. Cash spielte das Stück gleich zweimal, da gaben die johlenden Truckertypen und Faschingscowboys wenigstens für kurze Zeit Ruhe. Für seine neuen Fans spielte er ein paar Stücke alleine, und sie schenkten ihm ihre ganze Aufmerksamkeit und Zuneigung, während die Cowboyhütler quasselten und nicht hören wollten, dass Cash eben keine sentimentale Folklore ist, sondern ein hoch ragender Pfahl in der Scheiße der Welt. („The whole life is vive la merde“, schrieb Joachim Ringelnatz.)
Cash war nie ein lieber Junge, und er ist auch heute noch kein netter alter Country-Onkel. Seine Tablettensucht hätte ihn fast erledigt, habituell trat er Türen ein, verwüstete Bühnen und Hotels, vandalierte durch die Welt, und je heftiger er sein Außenseiterwesen lebte, desto mehr liebten ihn die Frauen. Cash war gefährdet, und er war seinerseits eine Gefahr für alle Inhaber wohlgefügter Ordnungsfantasien. In „Columbo“ spielte er sehr überzeugend einen Mörder, und er schien Mörder zu verstehen, wenn er sang: „I shot a man in Reno just to see him die.“ Er zeigte Nashville den Mittelfinger, und er meinte es genau so. Cash war der definitive Outlaw, und er ist es noch immer. Er ist der unaufgelöste, nicht harmonisierte Widerspruch. Aber er ist doch so religiös!, protestiert der Country-Traditionalist, als sei das ein Einwand. Ja, das ist wahr, Cash ist tief religiös. Das Religiöse ist das spiegelverkehrte Böse, und das Bedürfnis nach Religion und Erlösung ist auch das Eingeständnis der Existenz von etwas sehr Dunklem in einem selbst: „The Beast in me“, wie Johnny Cash singt. Und weil dieses Beast eine zentrale Rolle spielt im Leben des Johnny Cash, heißt Franz Doblers (gerade bei Kunstmann erschienenes) Buch über ihn: „The Beast in me – Johnny Cash und die seltsame und schöne Welt der Countrymusik“. Ich las das Buch auf einen Sitz, einen Tag und eine Nacht lang. Dobler schreibt in einem Ton über Cash, der Cash so nahe kommt, wie es nur irgend geht, ohne dabei Cashs Intimsphäre zu verletzen. Es ist gut, dass kein Musikjournalist dieses Buch schrieb, sondern ein richtiger Schriftsteller – hier geht es nicht um Sprache als Informationsvehikel, sondern um Integrität und Wahrhaftigkeit von Leben, Sprache und Musik.
Dobler beschreibt eine Szene, in der Peta Devlin und Hank McCoy das Liebeslied „Yankee go home“ als Duett singen und hakt nach: „Ich fragte mich, wie wir wären, wenn die Yankees nie gekommen wären.“ Cash war da, drei Jahre lang, als GI in Landsberg. Hier hatte er seine erste Band, die Landsberg Barbarians. Auf Deutsch sang Cash „Wo ist zu Hause, Mama?“, bis heute ein Lied für alle heimatlosen howling wolves, die niemals irgendwo ankommen werden, denn die Antwort auf die Frage nach dem magischen Ort „zu Hause“ lautet: „vielleicht hinter blauen Bergen, vielleicht bei den hellen Sternen“. Willi Winkler hat in einem Buch über seine Kinopassion die kluge, traurige Frage gestellt: „Ist Heimat nicht da, wo ich nie war?“ Die Sehnsucht, die in diesen Worten liegt, findet sich, zur Anklage gedreht, auch bei Dobler, der in der Nähe von Landsberg aufwuchs: „Nashville ist nichts anderes als die Christlich-Soziale Partei in Bayern: Sie lieben ihr Heimatland über alles, und deshalb würden sie für einen Parkplatz mehr den letzten Hügel teeren, zu den Klängen eines Keyboards, das Alphörner imitiert.“
Als ich Doblers langen, großen Text über Cash las, wusste ich wieder, was ich gerne vergessen hätte: wie Johnny Cash mir zum zweiten Mal das Leben rettete. Eine große Liebe war zu Ende gegangen, sie war fort, gone gone gone. Doch ganz gleich, wo ich hinging, war sie immer dabei, blieb als blinder Passagier in mir, als Fluch, immer reiste sie mit, auch als ich das längst wirklich überhaupt nicht mehr wollte. Kummer hatte von mir Besitz ergriffen, ganz, er saß in jeder Faser, war in jedem Atemzug. Johnny Cash hielt mich in der Spur. Er gab mir Kraft und Mut, das zu tun, was Gottfried Benn auf den Punkt brachte: „Erkenne die Lage.“ Es war eine harte Lektion. Cash sang „The Beast in me“ von Nick Lowe, der einmal sein Schwiegersohn war. „The Beast in me has learned to live with pain / and how to shelter from the rain“, und auch ich war so disparat und desperat, dass ich nicht mehr wusste, „if it’s New York oder New Year“, wie es in dem Lied heißt. Ort und Zeit verschwimmen, es gibt nur noch den Schmerz.
Eifersucht, das rotundschwarze Tier, kommt aus der Tiefe und will morden. Ich wache auf, die Hände voller Blut, auch die Kleidung, die Füße, alles ist über und über mit Blut bedeckt. Ich habe jemanden getötet, ganz sicher, sein Blut ist an mir, ich habe ihn mit Händen und Füßen umgebracht. Ich bin ein Mörder, nicht so ein sich hinterher auf Befehl und Pflicht herausredender soldatesker Killer, sondern ein richtiger, wahrer Mörder. Ich wate in einem Meer aus Schuld und Scham. Zwei Tage braucht es, bis ich merke, dass gar kein Blut da ist, dass alles nur eingebildet ist, aber diese Bilder scheinen so real, dass sie sich kaum abstreifen lassen. Cash bringt mich zu den Lebenden zurück. „Bad luck wind’s been blowing at my back / I was born to bring trouble to wherever I’m at / got the number 13 tattooed on my neck“, ja, das stimmt alles, und als er singt, „got a long line of heartache, I carry it well / the list of lives I’ve broken reaches from here to hell“, da singt er für mich. Seine Stimme ist das reinigende Feuer, es brennt, entsetzliche Tage und Nächte lang, und danach ist nichts mehr, wie es einmal war.
Johnny Cash bleibt und weist die Richtung: „I’m just a poor wayfaring stranger / travelling through this world below / there is no sickness, no toil, no danger / in that bright land to which I go.“
Es ist gut, auf dem Weg zu sein, und die Stimme von Johnny Cash ist das beste Marschgepäck, das man dabeihaben kann.
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