: Der Quotendeutsche
Fast wäre aus Heinz Rudolf Kunze so etwas wie ein deutscher Popstar geworden. Irgendwann aber hat er den Kurs verloren, und seitdem klappt gar nichts mehr. Wann war das? Eine Spurensuche
von ANDREAS MERKEL
„Das Weiße im Auge/ des Feindes zu sehn/ heißt nichts als geduldig/ vorm Spiegel zu stehn“ (Heinz Rudolf Kunze: „Der alte Herr“, 1991)
Sitzt einem gegenüber und wäre gerne: Bob Dylan. Sitzt einem gegenüber und wäre gerne: Randy Newman. Sitzt einem gegenüber und wäre gerne: Wolfgang Neuß. Sitzt einem gegenüber und ist aber tatsächlich: Heinz Rudolf Kunze.
Wenn man ein Faible fürs Psychologisieren hätte, dann könnte man sagen, dass es anstrengend sein muss, Heinz Rudolf Kunze zu sein. Und dass er sich offenbar in seiner Haut nicht wohl fühlt. Immer diese bemühten Vergleiche. Immer diese Angst, man könnte am Ende doch nur allein dastehen. Kein Dylan, kein Newman, nicht mal Neuß. Nur Kunze. Zum Interviewtermin erscheint er mit Baseballkappe, getönter Technobrille und einem spärlich wachsenden Ziegenbart.
Der Gesprächsanlass ist das, was vielleicht am wenigsten interessiert: Kunze hat mal wieder ein neues Album herausgebracht. „Wasser bis zum Hals steht mir“ heißt es und soll – neben zwanzig „regulären“ Veröffentlichungen – das dritte „andere“ Album sein, wie einem der Pressetext auf vier eng bedruckten Seiten ebenso umständlich wie vergeblich zu erklären versucht. Gemeint ist so etwas wie: Literarischere Texte, experimentellere Musik (laut Pressetext: „surreale Soundlandschaften“), aber trotzdem mit Songcharakter. Geschenkt. Das Album erzeugt beim Hören ziemlich authentisch die schlechte Laune eines zu langen Nachmittags vor dem Fernseher und beginnt als Meditation über Deutschland – bedeutende Jahreszahlen der deutschen Geschichte als Telefonnummer, unter der sich niemand meldet …
Was einen an Heinz Rudolf Kunze interessieren könnte, ist hingegen weniger, wie Kunze auf Deutschland schaut, sondern vielmehr, wie Deutschland aus Kunze herausschaut. Der Mann war ja mal so etwas wie ein deutscher Popstar (man erinnert sich: „Dein ist mein ganzes Herz“) – wenn auch nur ex negativo, das heißt immer mit der Angst im Nacken, dass es zu etwas Ernsthaftem nicht mehr reichen könnte. Das wurde ihm auch von früh an um die Ohren gehauen. „Heinz Rudolf Kunze“, fand Wolfgang Welt bereits 1982 im Musik Express, „ist ein Mensch, der am liebsten den Nobelpreis für Literatur, jedes Jahr eine Goldene Schallplatte und den Orden wider den tierischen Ernst gleichzeitig erhalten möchte“.
Kunze lacht darüber heute. Es gibt ihn immer noch, und „ein richtiger Star bin ich ja nie gewesen, eher jemand in der zweiten Reihe“. Zwanzig Jahre im Popgeschäft bemühen sich im Interview um zitierfähige Zweizeiler – um etwas, das originell klingt und trotzdem nicht so, als wäre es von Bernhard Brink. Zwanzig Jahre im Popgeschäft bemühen sich darum, zurückzurudern („Kann schon sein, dass die neue Platte ein wenig larmoyant geworden ist“) und die Gefahren einer öffentlichen Überinterpretation zu umschiffen.
„Ich habe nun mal ein extrem deutsches Schicksal“, verweist er auf die deutschen Grundlektionen in Zerrissenheit in seiner Biografie, wo sich das Politische mit dem Persönlichen stets vermischt hat. Die Eltern von drüben, der Vater bei der SS und trotzdem „ein ganz netter Mensch“. Der Sohn ein unsportlicher Streber, der seine Dicklichkeit nie ganz loswerden konnte, ebensowenig wie seine dann doch fast schon wieder sportliche Ausdauer. Kunze verfügt über einen Fleiß, der sich ganz deutsch aus der Unzufriedenheit mit dem eigenen Erfolg zu speisen scheint. Oder, ganz küchenpsychologisch, aus der Diskrepanz zwischen dem, was man hat, und dem, was man eigentlich hätte haben wollen.
Das alles ist nicht unsympathisch und ziemlich enttäuschend. Eher traurig als tragisch. Und jedenfalls garantiert nicht cool, garantiert nicht Pop. Das heißt natürlich andererseits: vielleicht gerade eben doch wieder Pop, eine Form der Sehnsucht. Man wäre so gerne wie Blumfeld oder die Sterne, aber es klappt alles vorne und hinten nicht, und man ist inzwischen längst bei Pur angekommen. Die Musik ist wie im Einkaufsradio, ein bisschen Ambient, ein bisschen Soul, ein bisschen Hip-Hop. Mit seiner viel zitierten Forderung nach einer Radioquote für deutschsprachige Künstler hat er zuletzt überregionale Aufmerksamkeit, aber kaum neue Freunde gewinnen können. Der literarische Anspruch und die politische Aussage verpuffen längst im Halbpoetischen. „Kurs verlieren hinterm Judenstern/ nicht ein blasser Schimmer kränkt den Schein/ deutscher Wertabschöpfer möchte gern/ auf der ganzen Welt alleine sein“, singt Kunze vieldeutig, aber nichtssagend in einem seiner neuen Songs, als habe er selbst längst den Kurs verloren.
War denn früher alles besser? Die Fragen, die man ihm während des Gesprächs stellt, werden immer blöder, und auch die Erinnerung an jene Zeit der eigenen Popadoleszenz, in der man Kunze „gut fand“, scheint zu trügen. Ein Geruch von Schulaulakonzerten haftet ihr an und das Gefühl, auf SPD-Wahlkampfveranstaltungen im Recht zu sein, vorne Heinz Rudolf mit seiner Lieblingslehrerstimme und einer Rhetorik, die man irgendwann vielleicht mal ein wenig zu gründlich durchschaut hat: Es gibt eben – trotz des falschen – kein „richtiges Leben“. Und alles Anti bleibt sowieso im Wesen dessen verhaftet, gegen das es vorgeht …
Wahrscheinlich weiß Kunze das alles selbst. Und wenn er es weiß, dann ist es jedenfalls ein Wissen, das ihn nicht davon abhält, heute eine Existenz als Schau- und Schießbudenfigur zu führen, um wenigstens noch irgendeine Form von Aufmerksamkeit zu erlangen. Beispielsweise, indem er zu Benjamin von Stuckrad-Barres MTV-Show „Lesezirkel“ geht (zu jenem Stuckrad-Barre also, dessen Kunze-Verrisse einst in der schlichten Aufzählung von dessen Auftrittsorten – Emden, Uelzen, Osnabrück – gipfelten). Dort las Kunze dann aus einem Text von Maxim Biller, zu dem er vorweg anmerkte, Biller sei für ihn ein „Quotenjude“, der kein Gespür habe für das Land, in dem er lebt. Die Reaktion blieb nicht aus. Paul Spiegel wurde im Spiegel mit dem Zitat konfrontiert und äußerte Unverständnis. Also gestand Kunze, der sich nicht nur Billers Provokationsmechanismus bedient hatte, sondern auch noch auf ihn hereingefallen war, seinen Fehler sofort ein: „Ich habe mich da im Ton vergriffen.“ Inzwischen habe er Paul Spiegel auch einen entschuldigenden Brief geschrieben.
Während Kunze das so im Interview erzählt, wird einem klar, dass man eigentlich nur Fragen an ihn hat, die sich überhaupt nicht gestellt hätten, wenn er sie beantworten könnte. Und irgendwann ertappt man sich dabei, wie man – ihm gegenübersitzend – Imagekampagnen für ihn ausspinnt. Er hätte vielleicht einfach seinen Beamtenaufzug der frühen Achtziger beibehalten, also durchhalten sollen, den Anzug mit Schlips und die Kassenbrille und diese Streberarroganz, die sich eben nicht mit jedem Showdeppen gemein macht! Und hätte vielleicht halb so fleißig sein sollen: weniger Engagement, weniger Engholm! Weniger Poesie, weniger Politik! Und weniger Alben, und schon gar keine „anderen“ Alben (und bitte auch keine Musicalübersetzungen)!
Dann hätte vielleicht alles gut werden können. Dann würde heute vielleicht kein Hahn mehr nach ihm krähen. Oder Kunze wäre immer noch kein Dylan, kein Newman und nicht mal Neuß. Sondern eben nur Kunze. Ein Popstar aus Deutschland, der einem nicht unsympathisch ist, aber mit dem man lieber nicht zu viel zu tun haben möchte.
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