: Anschwellende Reinrassigkeit
Ichzentrierte Beschreibungssprünge, Novalis-Zitate und spätexpressionistisches Dichterlallen: Der Prenzlauer-Berg-Dichter und gewissenhafte Stasispitzel Sascha Anderson hat mit „Sascha Anderson“ vor allem eine Autobiografievermeidung geschrieben
von FRAUKE MEYER-GOSAU
„Wahnsinn und Genie gehen Hand in Ha-and“ – das weiß man ja seit Udo Lindenberg. Und noch früher war zu lernen, dass, was „Wahnsinn“ ist, trotzdem „Methode“ haben kann. Wäre es möglich, dass der Wahnsinn eine Methode ist, als Genie zu erscheinen? Was für ’ne Frage! Die einem auch lange schon nicht mehr in den Sinn gekommen ist, nun aber plötzlich wieder aufwacht, bei solchen Sätzen: „Das Dunkle beseelt das Helle, von dem ich mich abwenden konnte, ohne es aus den Augen zu verlieren. Keine Brecht’sche Maßarbeit, für die das Dunkle kalt bleiben muss, wenn sie das Wort warm nicht ausspricht. Aber noch hielten die sakrilegisierten Fett, Dreck und Urin bindenden Porzellan-Nippes der Kunstkitsch-Sammlung, die in passenden Wandregalen den eisigen, finsteren Abort des väterlichen Haushalts auf halber Treppe bevölkerten, die Schwellen meines phantastischen Horizonts besetzten und entsetzten mein Empfinden, wie ein im Anfang eines romantischen Verses
O Geschriebenes Oh.“
Oh! O! Oh ja. Aha. Oha! Also standen im Vaterhaus des Erzählers, mal ganz simpel gedacht, auf dem Klo Regale mit Nippesfiguren, die „Fett, Dreck und Urin banden“? Ach was. Aber vielleicht „auf halber Treppe“? Nee, auch nicht. Nicht jedenfalls, wenn sie zugleich „den eisigen, finsteren Abort bevölkerten“. Und dazu das „Empfinden entsetzten“ und die „Schwellen meines phantastischen Horizonts besetzten“ (lag die „Schwelle“ nun also auf dem Klo oder auf der Treppe? Hm!).
Genau so erschröcklich jedenfalls muss das alles im Kinderleben des Sascha Anderson gewesen sein wie jenes „Oh“, das im früh geklauten Novalis-Druck als „O“ geschrieben wurde, „im Anfang eines romantischen Verses“. Und war damit wahrscheinlich auch nicht weniger unheimlich als jene „Hunde, aufgeblasen zur Reinrassigkeit ihrer Aufgabe“ – „ein“, wie es an wieder anderem Ort in Sascha Andersons übersichtlicherweise „Sascha Anderson“ genannter Autobiografie heißt, „Ereignis, dessen andauernder Widerhall sich mir einbrannte als die grundlegende Perspektive“. Aha. Oh! O.
Vielleicht aber sollte man die Witze gar nicht reißen, die dieses Buch einem auf seinen ersten hundert Seiten wie auf dem silbernen Tablett serviert und damit wohl nicht ohne Absicht die gute alte Künstlerfrage „Genie oder Wahnsinn?“ suggeriert. Denn eigentlich geht es hier ja um etwas ziemlich Ernstes: um die Kindheit und Jugend, dann das vielfältig zerrissene Leben des Lyrikers, Sängers und Organisators der halblegalen Kunst-, Musik- und Literaturszene der späten DDR, der zugleich eine der wertvollsten und beständigsten Quellen des Ministeriums für Staatssicherheit war: Sascha Anderson, den Wolf Biermann in seiner Büchnerpreisrede „Sascha Arschloch“ nannte, und der bei der Stasi unter den Namen David Menzer, Fritz Müller und Peters geführt wurde. Ein Mann, der jetzt in seinem Lebensbericht von sich sagt: „Anders, als ich hieß, wollte ich heißen.“ Der sagt: „Ich fliehe vor dem, was ich weiß, in das, was ich nicht wissen will.“ Und der zwischendurch über den Satz „Vielleicht war ich bedeutend und bedeutungslos“ zu der Bilanz gelangt: „Vielleicht war alles nur eine bedeutungslose Ferne wie ein bedeutungsloses Nichts.“ Schön wär’s.
Doch allzu wahrscheinlich ist es nicht. Denn Alexander „Sascha“ Anderson, geboren 1953 in Weimar, Kind einer Theaterfamilie, wurde von den Siebzigern bis gegen Ende der Achtzigerjahre lange nicht nur zur zentralen Figur einer Kunstszene, die sich programmatisch vom DDR-Staat abgekoppelt hatte. Er war eben auch der Agent dieses Staates in der vermeintlich freien Gruppierung und blieb dies selbst noch nach 1986, als er in Westberlin in den Kreisen der ausgereisten DDR-KünstlerInnen weitermachte, womit er im Prenzlauer Berg aufgehört hatte – ein Stasizuträger ersten Ranges. Und der erste Rang, das kann man jetzt seiner Beschreibung eines wachsenden, von höchst unterschiedlichen Adressaten mit höchst unterschiedlichen Interessen beantworteten Bedeutungswahns entnehmen, musste es für den späteren Underground-Impresario schon immer sein: „Mein Denken und mein Wille hatten es geschafft“, schreibt Sascha Anderson, „ein paar Gesetzeslücken zu füllen, mit Gedichten und Büchern, ein paar Kofferräume mit Kunst, ein paar Aktenordner mit Berichten, ein paar Bühnen mit Musikern und ein Gefühl von Unglück mit Erschöpfung“ – keine kleine Sache, wohl wahr!
Nur dass die „Aktenordner mit Berichten“ für das Ministerium für Staatssicherheit da so zwanglos zwischen Kunstereignissen und persönlicher Unglückserschöpfung stehen, irritiert ein bisschen: Als zählten auch sie bis heute zu seinen Lebensleistungen. Und da wüsste man doch gern, weshalb sich das so verhält. Was man hier allerdings nicht erfahren wird: In „Sascha Anderson“ gibt es kaum ein präzises Was – und schon überhaupt kein Warum. Stattdessen aber kann man eine interessante Methode studieren, Wesentliches so zu verschweigen, dass auch der einigermaßen wache Leser, von ichzentrierten Beschreibungssprüngen, Novalis-Zitaten und übrigem Wortgewölk betäubt, das Buch eher in die Ecke werfen als immer noch fruchtlos weiterfragen möchte.
Am Anfang stehen auch in dieser Lebensberschreibung natürlich die Kindheitserinnerungen, doch machen selbst sie in ihrer eigentümlich verschleiernden Sprache fast wehrlos: „Das Wortwörtliche war nicht gekleidet in die verschiedenen Dialekte ländlicher Herkunft, für die ich mich hätte entscheiden können“, heißt es da etwa, „sondern in die auszuforstende Sprache eines übergeordneten Zieles: das Hochdeutsch des Rollenspiels auf der Bühne – und da die in den Sternen stand –, die Rolle hinter der Bühne.“
Soll also wohl heißen: Schon als Kind kam der offenbar vernachlässigte Alexander bei seinen Bezugspersonen nicht vor und beschloss folglich, das zu ändern. Wie er auch sonst, ein Geld- und Bücher-Klauer, ein Schulverwiesener und Herumtreiber, offenbar niemals irgendwo richtig vorkam, immerhin schließlich aber das Setzerhandwerk erlernte, das ihm im späteren Künstlerleben noch von Nutzen sein sollte. Andersons Ursprungsfamilie brach auseinander, der halbwüchsige Sascha befreundete sich mit Künstlern, wollte auch selbst ein Künstler werden – und wurde im Lauf der Zeit „wie nebenbei“ erst vom KGB, dann von der Stasi, „angesprochen“. Was wollten die von ihm? Und was tat er darauf? Man erfährt das allenfalls nebenbei, in gewissermaßen subkutanen Neben- und Halbsätzen. Verraten jedenfalls hat der staatstreue Underground-Künstler möglichst die Besten, von Wolf Biermann bis Jürgen Fuchs, während er die Stasi im Laufe der Jahrzehnte mit natürlich wiederum erstklassigen Vorschlägen ausstattete, wie mit den dissidenten Künstlern am – für alle Seiten – schonendsten zu verfahren sei: Anderson, der Kümmerer. Borniert und umständlich, wie die SED-Macht nun einmal war, setzte die seine Vorschläge allerdings erst um, als schon alles zu spät war: „Das, was ich vorgeschlagen hatte und eigentlich selbst hätte tun müssen“, notiert Anderson gekränkt, „taten sie jetzt ohne mich.“ Wäre er dabeigeblieben und nicht 1986, mit Billigung der Stasi, nach Westberlin ausgereist: womöglich wäre alles noch ganz anders gekommen?
Weshalb diese Künstler-Spitzel-Lebensgeschichte schließlich so und nicht anders verlief, wird man danach bald müde zu fragen. Anderson selbst legt und vertieft nur eine Fährte, die auf einen dramatischen Ichverlust deuten soll: Schon der kleine Sascha war nur ein „Ich mit Ich-Puppe“ (wie hier ein Foto betitelt ist). „Ich spürte mich nicht“, schreibt er, und „wenn ich mich spürte, dann zwischen den Fronten“ – und immer wieder heißt es: „in meinem Inneren nichts“, ein „Ich ohne Inneres“. Komplementär zu diesem entkernten Ich steht dann, so soll man es wohl sehen, Andersons jahrzehntelang anhaltende Zuneigung zu seinen Führungsoffizieren, bei denen es für ihn vor allem um „Glauben und Vertrauen“ ging. „Dem ich vertraute, der konnte mir vertrauen“, schreibt er, ganz treu und blauäugig: „Ich war auf ihrer Seite. Ich saß nur auf der anderen Seite des Tisches.“ Und als mit der DDR alles vorbei war, hatte er „Mitleid mit ihnen“, und sie „entließen mich in Ehren“ – Beweise einer Männerfreundschaft, in der es ums Angeln, um die Enkel und das Leid der Armen dieser Welt gegangen war, und die nach dem Kneipenkumpel-Plauder-Prinzip „mal ehrlich“ funktionierte.
Mal ehrlich – nach dieser Lektüre kann man schwer glauben, dass Anderson überhaupt weiß, was das wäre. Was er hingegen genau weiß, ist, wie man Unmissverständliches konsequent vermeidet. Die Nebelkerzen in Form spätexpressionistischen Dichterlallens, die den ersten Teil der Autobiografie ausmachen, werden, wo es ernster wird, von der weit schlichteren Methode des Abbruchs abgelöst: Wo es um das gehen sollte, was er wirklich getan, was er preisgegeben und wem er wie geschadet hat, steht nichts. Statt dessen möchte der Dichter Anderson am Ende lieber ein Philosoph sein, der bedeutungsschwere Sätze hinwirft: „Die Sprache des Sprechens endet an der Oberfläche des Angesprochenen“! Na dann – ist ja sicher alles halb so schlimm gewesen. Auch das genialische Wahngebräu des Spitzelkünstlers, diese dreihundert Seiten starke Autobiografievermeidung, hätte man sich dann allerdings ganz einfach sparen können.
Sascha Anderson: „Sascha Anderson“. Dumont Verlag, Köln 2002, 303 Seiten, 19,90 €
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