: Les petites bonnes
Von sieben Uhr früh bis elf Uhr nachts: Schon mit fünf Jahren werden in Marokko Mädchen von ihren Eltern als Dienstmädchen in die Stadt geschickt. Gegen diese Form der Kinderarbeit richtet sich jetzt eine Anzeigenkampagne der Hilfsorganisation Insaf
von KATRIN SCHNEIDER
„Er geht zur Schule. Sie nicht.“ – So steht es über zwei Bildern einer großformatigen Anzeige, die seit Monaten in der marokkanischen Presse geschaltet wird. Auf dem linken Bild sieht man einen Jungen mit seinem Schulranzen auf dem Rücken, auf dem rechten ein Mädchen, das zwei offensichtlich schwere Eimer trägt. Auch wenn sie nur von hinten zu sehen sind: Beide sind eindeutig Kinder im Grundschulalter. Unter den Bildern liest man in großen Buchstaben: „Sie können dazu beitragen, dass sich diese Situation ändert.“
Die Anzeigen sind Teil einer Sensibilisierungskampagne der in Casablanca ansässigen Hilfsorganisation für Frauen in Notlagen Insaf, mit der diese auf ein soziales Problem aufmerksam machen möchte, das vor einigen Jahren in Marokko noch als Tabuthema galt und nicht öffentlich diskutiert werden konnte: das Problem der petites bonnes. Darunter werden schulpflichtige Mädchen unter 15 Jahren verstanden, die als Dienstmädchen in privaten, vorwiegend städtischen Haushalten arbeiten und dort auch wohnen. Wohnen bedeutet, einen Schlafplatz in der Küche zu haben oder auf dem Boden im Kinderzimmer zu schlafen, neben den Betten der Kinder ihrer Arbeitgeber, auf die sie tagsüber aufpassen sollen.
Aufmerksame Beobachter erkennen sie sofort: Es sind die Mädchen, die schon vor sieben Uhr morgens auf den noch leeren Straßen der großen Städte unterwegs sind, um ein frisches Baguette zum Frühstück zu kaufen, oder die am späten Abend losgeschickt werden, um Minze für den Tee zu besorgen, weil unerwarteter Besuch gekommen ist. Man erkennt sie an der Kleidung, die häufig zu groß oder zerschlissen ist, an ihren Schürzen und an ihren Tüchern, die locker um den Kopf gewickelt sind und nichts mit denen zu tun haben, die andere Frauen aus religiösen Gründen tragen. Der Kontrast zur Kleidung der Kinder ihrer Arbeitgeber springt besonders dann ins Auge, wenn ein Dienstmädchen Seite an Seite, meist um ihnen die Taschen zu tragen, mit den manchmal gleichaltrigen Kindern zur Schule läuft, an deren Pforte es jedoch umkehren muss, um sich dem täglichen Arbeitspensum zu widmen, dem Einkaufen, Wäschewaschen, Kochen und Putzen, kurz: der sozialen Reproduktionsarbeit für die Dienstherren.
Damit ermöglicht es die Berufstätigkeit der Arbeitgeberin, denn obwohl die Frauenerwerbstätigkeit in Marokko in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen hat, hat sich die Arbeitsteilung im Haushalt nur geringfügig geändert: Hausarbeit und die Sorge für die Kinder bleiben Frauensache. Mangels ausreichender sozialer Infrastruktur in Form von Kindergärten und Betriebskantinen ist für die meisten berufstätigen Frauen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nur mit Hilfe anderer Frauen möglich, entweder weiblichen Verwandten oder eben Hausangestellten, die sie von ihrem eigenen Gehalt bezahlen, als Preis für das Ausbrechen aus traditionellen Rollen, sei es aus emanzipatorischen Bestrebungen oder schlicht aus ökonomischer Notwendigkeit. Da die Löhne der meisten erwerbstätigen Frauen gering sind und Industriearbeiterinnen häufig genug nicht einmal den offiziellen Mindestlohn erhalten, bleibt als Ausweg nur die Beschäftigung eines möglichst jungen Mädchens, denn der Verdienst der petites bonnes steigt mit ihrem Alter.
Wie viele Mädchen unter 15 Jahren als Dienstmädchen in Marokko arbeiten, ist unklar, da die Arbeitsverhältnisse in diesem Segment des informellen Sektors statistisch nicht erfasst werden können. Schätzungen gehen von Größenordnungen zwischen 70.000 und 200.000 betroffenen Kindern und Heranwachsenden aus. Eine im letzten Jahr vom Planungsministerium in Auftrag gegebene Studie beziffert die Zahl der petites bonnes allein für den Großraum Casablanca auf 23.000. Die Mädchen stammen zum überwiegenden Teil aus kinderreichen Familien vom Land und werden von ihren Eltern häufig bereits im Alter von 5 Jahren zum Arbeiten in eine der großen Städte geschickt. Historisch hat dies eine lange Tradition: Vor der Unabhängigkeit Marokkos schickten die Pächter auf dem Land eine ihrer Töchter als Lehrling in die Familie des Landbesitzers, damit diese in der Stadt die traditionellen weiblichen Fertigkeiten lerne. Erst nach der Unabhängigkeit wurden aus diesen klientelistischen Beziehungen zunehmend Lohnarbeitsverhältnisse zwischen Frauen unterschiedlicher sozialer Schichten und Generationen. Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi spricht in diesem Zusammenhang von einer Dichotomisierung der Welt der Frauen.
Heute sind die Eltern der Mädchen aus materieller Not gezwungen, ihre Töchter in städtischen Familien arbeiten zu lassen, mit denen sie häufig nicht einmal mehr eine gemeinsame Herkunft oder verwandtschaftliche Beziehungen verbindet. Denn in den letzten Jahren ist eine immer stärkere Kommerzialisierung der Vermittlung von Angebot und Nachfrage zu beobachten, die zunehmend von Mittelsmännern oder -frauen übernommen wird. Wie hoch der materielle Druck der Herkunftsfamilien ist, zeigen die Ergebnisse einer nationalen Haushaltserhebung von 1998/99, die belegen, dass die Armut auf dem Land in den letzten Jahren wieder massiv zugenommen hat, nachdem es in den 80er-Jahren deutliche Verbesserungen gegeben hatte. Demnach sind 27,2 Prozent aller ländlichen Haushalte als arm einzustufen, und ein sehr viel höherer Prozentsatz lebt nur geringfügig oberhalb der Armutsgrenze. Verursacht wurde die Verschärfung der Armutssituation auf dem Land unter anderem durch die Dürreperioden der 90er-Jahre, die zu einem strukturellen Problem für die stark von Niederschlägen abhängige marokkanische Landwirtschaft geworden sind. Durch die Vermittlung einer oder mehrerer Töchter in einen städtischen Haushalt wird der ökonomische Druck auf zweierlei Weise gemindert: Zum einen entfallen Ausgaben für den Unterhalt der Kinder, zum anderen wird das Haushaltsbudget durch zusätzliche Einkommen aufgebessert. Denn die Gehälter der Mädchen, die weit unter dem offiziellen Mindestlohn liegen, werden in den meisten Fällen direkt von ihren Eltern kassiert und machen zwischen 20 und 80 Prozent des monatlichen monetären Einkommens der ländlichen Haushalte aus.
In einer der wenigen Studien, die in den letzten Jahren versucht haben, die Lebenssituation der petites bonnes zu beleuchten, gaben 77 Prozent der interviewten Mädchen an, nie in eine Schule gegangen zu sein. Sie reihen sich somit ein in die große Zahl der Analphabetinnen – nach Angaben der Vereinten Nationen gehören dazu 66 Prozent aller marokkanischen Frauen über 15 Jahre – und bleiben ihr Leben lang in einem Teufelskreis der Armut gefangen. An diesem Punkt setzt die eingangs erwähnte Kampagne von Insaf an: Die Organisation beruft sich auf die gesetzlich vorgeschriebene Schulpflicht für alle Kinder im Alter zwischen 6 und 15 Jahren und fordert zur Akzeptanz dieses Gesetzes auf. Die Legitimation, Mädchen unter 15 Jahren als Dienstmädchen zu beschäftigen, wird in dieser Kampagne also nicht grundsätzlich in Frage gestellt, solange ein Arbeitgeber seiner Angestellten den Schulbesuch ermöglicht.
Die Frage des Schulbesuchs stellt jedoch nur ein Teilproblem dar. Über zwei Drittel der 450 in der Studie befragten Mädchen gaben an, dass sie bereits vor 7 Uhr morgens aufstehen und erst nach 23 Uhr ins Bett gehen. Das bedeutet Arbeitstage von fast 16 Stunden, meist 7 Tage die Woche. Nur 19 Prozent hatten einen freien Tag in der Woche oder zumindest einen im Monat. Die Auswirkungen dieser ausbeuterischen Arbeitsbedingungen auf die physische und psychische Gesundheit der Mädchen sind beträchtlich. Verschiedene linke Frauenorganisationen machen sich seit Jahren zu Anwältinnen der Dienstmädchen und weisen auf das Fehlen jeglicher Absicherung hin, was dadurch verstärkt wird, dass die Arbeit weitgehend unsichtbar und ungeschützt in privaten Haushalten stattfindet.
Die progressiven Frauenrechtlerinnen fordern die Aufnahme von Regelungen hinsichtlich Zeiten, Mindestlöhnen und Urlaubsansprüchen in das Arbeitsgesetz, dessen Reform schon seit längerem auf der politischen Agenda steht, bislang allerdings ohne sichtbare Fortschritte.
Ein Erfolg war die Aufnahme einiger Bestimmungen zum Schutz von Dienstmädchen in den von Regierung und Zivilgesellschaft erarbeiteten Nationalen Aktionsplan zur Integration von Frauen in den Entwicklungsprozess, der jedoch nach heftigen Protesten von Seiten konservativ-islamistischer Kräfte, die einige vorgeschlagene Änderungen des Familienrechts betrafen und ihren Höhepunkt in einer Großdemonstration in Casablanca im März 2000 fanden, wieder in der Schublade verschwunden ist.
Die Regierung unter Premierminister Youssoufi betrachtet die Thematik der petites bonnes dennoch weiterhin als großes soziales Problem. Immer häufiger wird in den letzten Jahren in den Medien von Mädchen berichtet, die von ihren Arbeitgeberinnen schwer misshandelt und im schlimmsten Fall zu Tode geprügelt wurden. Und auch sexueller Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen sind keine Einzelfälle. Werden die Mädchen schwanger, so landen sie mit ihrem Kind auf der Straße oder im schlimmsten Fall sogar im Gefängnis, denn ein uneheliches Kind zu bekommen gilt in Marokko als Prostitution und ist strafbar. Berichtet wurde in den Medien auch über einige spektakuläre Selbstmorde von Dienstmädchen, die auf diese Weise einer für sie ausweglos scheinenden Situation ständiger Demütigungen und Misshandlungen ein Ende bereitet haben.
Für das erst seit der Regierungsumbildung im August 2000 existierende Teilministerium für Frauenangelegenheiten, Schutz von Familie und Kindern sowie die Integration von Behinderten, das dem Arbeits- und Sozialministerium zugeordnet ist, waren die Medienberichte Anlass genug, in seiner landesweiten Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen auch die Misshandlungen von Dienstmädchen zu thematisieren. Mit finanzieller Unterstützung der Unicef, des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, wurden zwei Fernsehspots produziert, die zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden und die Bevölkerung sensibilisieren sollen.
Die Autorin ist entwicklungspolitische Gutachterin und promoviert über das Thema ihres Artikels
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen