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Wenn sich die Wehrlosen wehren

aus Pirna HEIKE KLEFFNER

Selda Sendilmen hat einen einzigen Geburtstagswunsch: „Aus Pirna wegziehen und endlich so leben wie alle anderen.“ Vor drei Tagen ist Selda 21 Jahre alt geworden, sie trägt ein figurbetontes T-Shirt, und ihre großen dunkelbraunen Augen umrahmt schwarzer Kajal. Von der Erfüllung ihres Wunsches kann die junge Frau nur träumen. Stattdessen muss sie sich heute gemeinsam mit ihren 23- und 25-jährigen Brüdern, ihrem Vater Adem Sendilmen und ihrer Mutter Keziban auf der Anklagebank des Amtsgerichts der 48.000-Einwohner-Stadt am Rande des Elbsandsteingebirges einfinden. Seldas größte Angst: „Dass der Richter meine Brüder und meine Eltern einsperrt.“

Acht Fälle von gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung zwischen 2000 und 2001 wirft die Staatsanwaltschaft der fünfköpfigen türkischen Familie vor. Tatort: das Restaurant „Antalya Grill“ in der Fußgängerzone von Pirna, wo Selda und ihre Familie arbeiten. Tatzeiten: zumeist nach Einbruch der Dunkelheit. Zeugen, vom Sprecher des Pirnaer Amtsgerichts auch als „Opfer“ bezeichnet: knapp zwei Dutzend Rechte aus Pirna und den angrenzenden Dörfern der Sächsischen Schweiz, darunter führende Kader der seit April 2000 verbotenen Neonazigruppierung „Skinheads Sächsische Schweiz“ (SSS).

Glaubt man der Staatsanwaltschaft, ist alles ganz einfach. Immer wenn sich Kurzhaarige vor der Fensterfront des „Antalya Grills“ blicken ließen, habe die Familie zugeschlagen. Mal soll der 51-jährige Adem Sendilmen mit einem Dönermesser auf eine Gruppe von zwanzig Glatzköpfen losgegangen sein, mal soll Selda mit ihren Fäusten die Vertreter der regionalen Jugendleitkultur bearbeitet haben.

Acht Attacken in vier Jahren

Selda Sendilmen und ihr Vater Adem haben die Ereignisse, für die sie sich jetzt vor Gericht verantworten sollen, ganz anders in Erinnerung. Achtmal sei das kleine Restaurant, dessen Fensterfront mit einer gelben Sonne und einer blauen Wolke beklebt ist, seit der Eröffnung vor vier Jahren von Rechten angegriffen worden. Selda holt einen dicken Aktenordner hervor, in denen die Familie minutiös die Zeitungsartikel zu den Übergriffen gesammelt hat.

Für sie hat alles am 1. Mai 1998 angefangen. In Leipzig demonstrierten damals über 4.000 Neonazis aus ganz Deutschland, darunter auch eine Abordnung aus der Sächsischen Schweiz. „Abends kamen 15 Männer und vier Frauen ins Lokal gestürmt und haben alles kurz und klein geschlagen“, erinnert sich Selda, die danach 14 Tage krank geschrieben war. Die Polizei habe die Täter zwar festgenommen, doch verurteilt wurde niemand.

Heute glaubt die 21-jährige, dass „die Rechten sich dadurch ermutigt gefühlt haben“. Denn alle weiteren Vorfälle seien immer nach dem gleichen Schema abgelaufen. So wie zum Beispiel am 27. Februar 2000. Da hatte Adem Sendilmen eher zufällig bemerkt, dass der stadtbekannte SSS-Aktivist Thomas R. gerade dabei war, Fotos vom „Antalya Grill“ zu machen. Wenig später brüllt ein Dutzend junger Männer Parolen wie „Ausländer raus“, „Scheiß Türken“ und „Wir fackeln dir den Laden ab“. Selda sagt, sie habe die Polizei angerufen und dann gewartet. Doch es geschah, wie zuvor auch schon – nichts. „Die Polizei kam einfach nicht.“

Der Familie gelang es mit Hilfe von einigen Restaurantbesuchern, die Rechten in die Flucht zu schlagen. „Wir hatten keine andere Wahl, als uns zu wehren“, sagt Selda ruhig. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders. Die Sendilmens hätten sich mit Billardstöcken, Baseballschlägern, Eisenstangen und Elektroschockern bewaffnet und gezielt die Rechten durch die Fußgängerzone gejagt. Den Vorwurf, nicht reagiert zu haben, weist Gerhard Wellner, Sprecher der Polizeidirektion Pirna, zurück: „Wir sind jedesmal, wenn wir gerufen wurden, gekommen.“

Strittig ist zwischen der Familie und der Polizei, ob diese Hilfe auch rechtzeitig kam. In beinahe akzentfreiem Deutsch erzählt Selda vom Nachmittag des 4. November 2000. Am Rande einer Demonstration von 700 Bürgern gegen rechte Gewalt ziehen Dutzende von Neonazis vor den „Antalya Grill“. Unbehelligt von der Polizei, die offenbar kräftemäßig überfordert war. Was dann geschah, soll ebenfalls im Gerichtssaal geklärt werden. Adem Sendilmen zeigt einen Artikel aus der Sächsischen Zeitung. Unter dem Foto, das ihn mit einem Stück Holz in der Hand zeigt, wird behauptet, er sei mit „einem Dönermesser“ auf die Anhänger der rechten Szene losgerannt. Zuvor soll er eine türkische Fahne aus dem Fenster geschwenkt und mit Aschenbechern geworfen haben. Seiner Tochter Selda wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, einer Polizistin ins Gesicht geschlagen zu haben.

Ein langer Riss in der Schaufensterscheibe vor dem Dönerspieß erinnert an den vorerst letzten Vorfall vor dem „Antalya Grill“, im Januar 2001, als die Rechten mit Steinen schmissen und Adem Sendilmen vergeblich vor die Ladentür ging, um die Menge zu beruhigen. Seine 47-jährige Ehefrau Keziban laboriert ein Jahr danach noch immer an den Folgen der Auseinandersetzung, einem zertrümmerten Fußgelenk. Seitdem herrscht Ruhe. Ruhig schlafen kann Adem Sendilmen trotzdem nicht. „Der Stress hat mich krank gemacht“, sagt der 1,60 große Mann, der seit 32 Jahren in Deutschland lebt. Dass er heute an Bluthochdruck, Diabetes und einem fast blinden Auge leidet, führt Adem Sendilmen auf die vielen Nächte zurück, in denen er schlaflos am Fenster der Wohnung über seinem Restaurant darauf wartete, „dass sie wieder kommen“.

Opfer sind „besondere Leute“

Polizeisprecher Gerhard Wellner erklärt, um die Lage zu entspannen habe man im Frühjahr 2001 die Sendilmens zum Gespräch gebeten und gemeinsam mit Stadt und Staatsanwaltschaft nach Lösungen gesucht. „Wir haben der Familie ans Herz gelegt, nicht selbst zu handeln, sondern uns sofort anzurufen.“ Denn sonst provoziere das die rechten Jugendlichen. Wellner fügt hinzu: „Für uns ist diese Art der Selbstjustiz schwer zu verstehen.“ Außerdem habe das Verhalten der Sendilmens „besondere Leute hervorgelockt“. „Besondere Leute“ ist eine Bezeichnung, die die Sicherheitsbehörden in Bezug auf viele Zeugen der Anklage gegen die Familie Sendilmen sonst nicht verwenden. Stattdessen fallen dann Begriffe wie „mutmaßliche Mitglieder in einer kriminellen Vereinigung“.

Zum Beispiel Thomas R. Als das Landeskriminalamt im Sommer 2000 die Wohnungen von 65 mutmaßlichen Mitgliedern der SSS durchsuchte, wurden bei dem 23-jährigen KfZ-Mechaniker unter anderem so genannte „Feindlisten“ mitsamt Adressen und Fotos vermeintlicher „politischer Gegner“ gefunden. Über die Wirkung der staatlichen Maßnahmen gegen die SSS gehen die Meinungen auseinander. Leo Blech, bis Ende November 2000 Leiter der Polizeidirektin Pirna und heute Vorsitzender des Vereins „Netzwerk Sachsen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“, meint dazu: „Die SSS ist weiterhin aktiv“ – allerdings besser getarnt als zuvor. Beim Landesamt für Verfassungsschutz heißt es dazu im umständlichen Behördendeutsch: „Personen aus dem Kreis der Mitglieder der verbotenen SSS beschäftigen sich nach wie vor mit rechtsextremistischem Gedankengut und nehmen an Veranstaltungen von rechtsextremistischen Organisationen teil.“

So wie am 13. Februar dieses Jahres. Da tat sich Thomas R. als Ordner bei einem Neonaziaufmarsch in Dresden hervor. Leo Blech glaubt, die 120 Skinheads vom „harten Kern“ in der Region „sind für die Gesellschaft verloren“ und ausschließlich ein Fall für Polizei und Justiz. Er berichtet auch von afrodeutschen Familien, die aus Angst vor Übergriffen einige öffentliche Plätze in Pirna meiden und nicht mehr mit der S-Bahn fahren.

Bei diesem Thema wird Ernst Brandt, Sprecher des Amtsgerichts Pirna, energisch: Keineswegs würden sich die Schlagzeilen über Neonazis in der Region „in der Anzahl von Verfahren gegen Rechte vor dem Amtsgericht Pirna widerspiegeln“. Die Zahl sei eher gering. Die Frage, woran das liegen könnte, möchte er nicht beantworten. Expolizeichef Leo Blech sagt: „Rechtsextremismus kommt hier aus der Mitte der Gesellschaft.“ Zum Prozess der Familie Sendilmen will sich Blech nicht äußern, denn einige der strittigen Vorfälle fallen noch in seine Amtszeit. Auch Amtsgerichtssprecher Brandt will zu dem „schwierigen Verfahren“ am liebsten nichts mehr sagen. Die Passanten, die nachmittags auf der Fußgängerzone flanieren, sind weniger zurückhaltend. „Die Türken sind doch selber schuld“, sagt eine gut gekleidete 33-Jährige. „Die sollen still sein oder nach Hause gehen.“

Ein Berg von Schulden

Zu Hause ist für Selda ihre Geburtsstadt Berlin. Dahin würde sie gerne zurückkehren. Doch vier Jahre Abenteuer Ost haben auch alle Ersparnisse ihrer Familie aufgebraucht. „Wir stehen mit einem Berg von Schulden da, weil immer weniger Leute bei uns essen.“

Neulich hat ihr ein junges Mädchen erzählt, sie sei von ihrer Lehrerin vor den „bösen Ausländern“ gewarnt worden. Und seitdem die Lokalzeitung von den Vorstrafen ihrer Brüder und Mutter berichtete – „wegen eines Familienstreits“, wie Selda betont –, ist das Geschäft noch schlechter geworden. Hilfe erwartet sie von niemandem mehr in Pirna. „Es gibt schon Leute, die uns mögen. Aber die haben Angst.“

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