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Rolle rückwärts in Lurup

In den Luruper SAGA-Siedlungen Lüdersring und Flüsseviertel geht es seit zwei Jahren bergauf. Doch der Sozialkahlschlag droht diese Entwicklung nun umzukehren  ■ Von Marco Carini

Lurup: ein Stadtteil mit vielen verschiedenen Gesichtern. Auf den ersten Blick dominieren die kleinen Einfamilien- und Reihenhäuser, der Altonaer Stadtteil kommt fast betulich daher. Dazwischen: Hochgewachsene Sozialwohnungssilos, die bis zu dreizehn Stockwerke hoch Wohnungen türmen. Sie aber sind nicht geprägt von der architektonischen Einfallslosigkeit vergleichbarer Siedlungen wie Mümmelmannsberg oder Steilshoop; große grüne Freiflächen zwischen den Wohnkomplexen lockern das Bild zusätzlich auf. Lurup eine grüne Vorortidylle? Vielleicht ein Teil der Wahrheit.

Ein anderer Teil: Lurup, der Stadtteil in Randlage, in den sich auch viele alteingesessene HamburgerInnen noch nie verirrt haben. Die nach Pinneberg führende S-Bahn-Trasse riegelt den Stadtteil vom benachbarten Eidelstedt ab, zwischen Lurup und Altona schieben sich Volkspark, Trabrennbahn und der Altonaer Hauptfriedhof als sichtbare Barrieren. Im Nordwes-ten schmiegt sich die Stadtgrenze an Lurup an, gleich dahinter beginnt mit Halstenbek das schleswig-holsteinische Niemandsland.

Doch nicht nur von der Außenwelt wirkt Lurup abgeschnitten, der 250 Jahre alte Stadtteil, dem seit jeher ein gewachsenes Zentrum fehlt, ist auch in seinem Innern von harten Trennlinien geprägt. Da sind die Verkehrshauptschlagadern Luruper Hauptstraße und Elb-gaustraße (Ring 3), die Lurup wie ein Skalpell zerschneiden. Und da ist diese – im Fachdeutsch der Städteplaner – „heterogene soziale und bauliche Struktur“: Einfamilienhausgebiete, die aus Kleingartensiedlungen entstanden, stoßen schroff und übergangslos an die seit den 50er Jahren entstandenen Sozialwohnungssiedlungen. Die harten baulichen Trennlinien wirken als soziale Mauern.

Lurup als Stadtteilidentität gibt es deshalb nicht. Menschen, die hier leben, – das zeigen Befragungen vor Ort – identifizieren sich nicht mit ihrem Stadtteil, sie haben eine gefühlsmäßige Beziehung nur zu ihrem Wohnquartier. Besonders zwei dieser Quartiere bereiten den PlanerInnen einer sozialen Stadtentwicklung seit Jahren Kopfzerbrechen: Die Hochhaussiedlung um den Lüdersring und den Lüttkamp und das sogenannte „Flüsseviertel“: beide fast nur aus SAGA-Sozialwohnungen bestehend.

Während jedeR vierte BewohnerIn des Flüsseviertels von der Sozialhilfe lebt, ist es rund um den Lüdersring sogar jedeR Dritte. Armut und Arbeitslosigkeit prägen deshalb das Bild der Siedlungen – mit den typischen Begleiterscheinungen: Isolation, Ausgrenzung, nicht intakte Familien, Suchtprobleme und eine erhöhte Gewaltbereitschaft von Jugendlichen nennt ein 1998 im Auftrag von Stadtentwicklungsbehörde und SAGA entstandenes Handlungskonzept die unerwünschten Nebenwirkungen der sozialen Monotonie.

Viele Kinder, so die Studie, seien „leiblich und sozial“ unterversorgt, nicht wenige kommen hungrig zur Schule. Weil die Wohnungen oft eng und überbelegt sind, werden die Kinder von ihren Eltern schon früh auf die Straße geschickt. „Es gibt hier Dreijährige, die unbeaufsichtigt unterwegs sind“, weiß Cordula Gutdeutsch vom „Kinder- und Familien-Zentrum“. Bei den etwas Älteren ist die Organisierung in Jugendgangs an der Tagesordnung.

Mit all diesen Problemen waren die LuruperInnen bis vor kurzem fast auf sich selbst gestellt: Es gab nur wenige Anlaufstellen für die SiedlungsbewohnerInnen. „Die vorhandenen Betreuungseinrichtungen“, so das Handlungskonzept von 1998, „reichen nicht aus, um die Probleme aufzufangen.“

März 2002: In der neuen Familienservicestation am Lüdersring spielen Mütter verschiedener Nationalitäten mit ihren Kleinkindern, daneben unterstützt eine Mitarbeiterin einen jungen Rußlanddeutschen beim Ausfüllen eines Sozialamtsformulars. Die acht Mitarbeiterinnen der Servicestation unterstützen vor allem Mütter, behinderte und alte Menschen ganz praktisch: Sie helfen beim Einkaufen, organisieren Kinderbetreuung, begleiten bei Behördengängen.

Nur einen Steinwurf entfernt lassen sich zwei junge Frauen in einem umgebauten Wohnmobil des JobClubs Altona beraten, wie sie Bewerbungen zu formulieren haben. Viermal pro Woche steht das JobClub-Mobil an verschiedenen Plätzen in Lurup, um arbeitslosen Jugendliche und Langzeitarbeitslosen bei der Job-Suche unter die Arme zu greifen.

Anya Wendland, Koordinatorin des Schnittstellenprojekts REALÜ, klappert gerade verschiedene soziale Einrichtungen des Stadtteils ab, um Ideen für neue gemeinsame Projekte zu entwickeln. Ein regelmäßiges gemeinsames Frühstück für Frauen verschiedener Nationalitäten und eine kostenlose Spielgeräte-Ausgabe für Jugendliche sind nur zwei der Projekte, die die Koordinatorin in den vergangenen Monaten gemeinsam mit anderen Einrichtungen ins Leben gerufen hat.

All diese Aktivitäten haben eines gemeinsam: Sie sind erst in den vergangenen zwei Jahren entstanden und bauen aufeinander auf. Als Gebiet der „Sozialen Stadtentwicklung“ hat Lurup eine besondere finanzielle Förderung von Stadt und Bezirk erfahren – soziale und beschäftigungspolitische Aktivitäten konnten so hierher geholt werden.

„Es ist hier viel entstanden“, resümiert Janina Jentz von der Familienservicestation die Veränderungen der vergangenen Monate. „Wir sind noch dabei, die Folgen davon aufzuarbeiten, dass die Menschen sich jahrelang selbst überlassen wurden“, berichtet Petra Ruhl vom JobClub-Mobil, „aber die Bereitschaft sich um seine eigenen Rechte und sein eigenes Leben zu kümmern ist spürbar gewachsen.“ Auch Maren Nehls von der Jugendhilfe Ottensen beobachtet, dass durch die neuen Hilfsangebote „die Lebenssituation vieler Menschen sich stabilisiert, was die Atmosphäre in den Quartieren verbessert“. Und Anya Wendland betont, „dass viele LuruperInnen aus der Anonymität rausgekommen sind und jetzt beginnen, sich gegenseitig zu helfen“. Wie Zahnräder greifen dabei die sozialen Einrichtungen inzwischen ineinander: Sie unterstützen sich gegenseitig, bringen gemeinsame Projekte auf den Weg, verweisen aufeinander, wenn hilfebedürftige LuruperInnen einmal am falschen Anlaufpunkt gelandet sind. „Wir schicken Jugendliche, die eine Beratung brauchen, ins Kinder- und Familienzentrum, die schicken uns Mütter, die eine Kinderbetreung benötigen“, beschreibt Janina Jentz die alltägliche Praxis.

Doch der hoffnungsvollen Entwicklung in den beiden SAGA-Siedlungen droht durch die rigide Rotstiftpolitik ein jähes Ende. Das Schnittstellenprojekt dürfte im kommenden Jahr auslaufen, das erst seit Januar durch Lurup tourende JobClub-Mobil hat gerade seine Öffnungszeiten reduziert, weil aufgrund der drastischen Zuwendungskürzungen zwei offene Stellen nicht besetzt wurden. Auch die Jugendhilfe Ottensen, die sich um die Qualifizierung und Beschäftigung von Jugendlichen und Jungerwachsenen auch aus Lurup kümmert, beklagt den Wegfall von mindestens sechs ABM-Stellen und eine 25-prozentige Kürzung der Nettogehälter ihrer Stammbelegschaft.

Die noch in diesem Jahr bei der Familienservicestation neu zu besetzenden Leitungsstellen können aufgrund der geringen Vergütung von 750 Euro netto voraussichtlich nicht wiederbesetzt werden. Auch alle anderen Luruper Träger, von der Straßensozialarbeit bis hin zur Suchtberatungsstelle, sind von dem Streichkonzert betroffen.

Besonders ärgert es die SozialarbeiterInnen, wenn die Sozialsenatorin behauptet, die von ihr verfügten Kürzungen könnten durch eine bessere Zusammenarbeit der Träger aufgefangen werden. „Diese enge Kooperation gibt es längst“, betont Anya Wendland: „Wenn in Zukunft aber weniger Sozialarbeitsstellen finanziert werden, wird es keine Zeit mehr geben, die Projekte zu vernetzen und gemeinsam etwas zu entwickeln.“

Zudem befürchten die Stadtteileinrichtungen einen Dominoeffekt, wenn soziale Einrichtungen finanziell ausgeblutet einfach wegbrechen. „Wenn eine Einrichtung dichtmacht, gehen die Leute zur nächsten – die dann den neu entstandenen Bedarf nicht mehr de-cken kann“, prophezeit Janina Jentz.

Doch es ist nicht nur das fehlende Geld, das die MitarbeiterInnen der verschiedenen Projekte frus-triert. „Die Entscheidungen werden heute am grünen Tisch ohne jeden fachlichen Austausch getroffen – unsere Verbindung zu den Entscheidungsträgern ist verstopft“, klagt Anya Wendland: „Es ist nicht mehr gefragt, was wir an Erfahrungen gesammelt haben.“ In den Entscheidungsgremien macht die Sozialarbeiterin eine erschreckende fachliche Inkompetenz aus. Da werde im Jugendhilfeausschuss gefragt, warum die ganze Arbeit nicht auch ehrenamtlich geleistet werden könne und von Familienbildern ausgegangen, zu denen selbstverständlich Vater, Mutter und Kind gehören. Die meisten Mütter aus den Luruper SAGA-Siedlungen aber sind de facto alleinerziehend, sie brauchen keine Ehrenämter, sondern Arbeit und Kinderbetreuung. Wendland: „Die neuen Entscheidungsträger haben oft gar keine Ahnung, wie es in diesem Stadtteil aussieht, mit was für Menschen wir es hier zu tun haben.“

„Es muss wieder die Möglichkeit geben, mit den politisch Verantwortlichen etwas gemeinsam zu entwickeln“, fordert auch Mareen Nehls ein. Ideen gibt es genug: So würde Anya Wendland gern ein Tagelöhnerprojekt für Langzeitarbeitslose ins Leben rufen. Mit ihrer Hilfe könnte ein pädagogischer Mittagstisch für Kinder eingerichtet werden, die hungrig oder falsch ernährt zur Schule kommen.

Doch für neue Ideen gibt es weder offene Ohren noch Geld. Erstmal geht es in Lurup deshalb um die Abwehr der beschlossenen Mittel-Streichungen. So forderte die Stadtteilkonferenz Lurup die Sozialbehörde vor kurzem auf, die „geplanten Kürzungen zurückzunehmen“. Durch die „geplanten Kürzungen bei Beschäftigungsträgern und Beratungseinrichtungen in den Luruper Stadtentwicklungsgebieten“ sei deren „derzeitige Qualität nicht aufrechtzuerhalten“. Die Folge wären „erneut große Versorgungslücken für die Bewohner und Bewohnerinnen des sozial schwachen Stadtteils Lurup“.

Bislang blieb der Appell unbeantwortet. „Nicht eine Kürzung wurde zurückgenommen“, berichtet Janina Jentz. Zurückgenommen werden dürfte somit nur die positive Entwicklung der Luruper „Problemquartiere“. Was hier in jahrelanger Arbeit aufgebaut wurde – zerstört werden könnte es innerhalb weniger Monate.

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