Auf der Suche nach den Behinderern

Die Ausstellung „Der (im-)perfekte Mensch“ im Martin-Gropius-Bau will für die Betrachter erfahrbar machen, das Behinderung ein soziales Konstrukt ist. Danach ist es sogar vorstellbar, dass in einigen Jahren Brillenträger nicht mehr der Norm entsprechen

von SEBASTIAN LINKE

Symbolträchtig kreist der gläserner Mensch auf einer Spiegelpyramide und gibt dem Betrachter Einblicke in seine inneren Organe. Das Leitobjekt des Dresdener Hygienemuseums steht zur Zeit im Martin-Gropius-Bau. Gesäumt wird es von Altären, die durch plakative Bilder von Marilyn Monroe und strahlenden Babys gesellschaftliche Ideale wie Schönheit, Gesundheit und Rationalität dokumentieren. Nach einer 180-Grad-Drehung blickt der gläserne Mensch auf das „Archiv der Unvollkommenheit“, dessen Inhalte das Mängelwesen Mensch – Ängste, Schmerzen und Vergesslichkeiten – präsentiert.

Die Gratwanderung zwischen Perfektionsidealen und dem Bewusstsein menschlicher Unvollkommenheit, zieht sich als zweiter roter Faden durch die Ausstellung „Der (im-)perfekte Mensch – Vom Recht auf Unvollkommenheit“, die das Deutsche Hygienemuseum gemeinsam mit der Aktion Mensch veranstaltet. Ein echter roter Faden dient als Leitfaden – nicht nur für Blinde.

Als der gläserne Mensch 1930 erstmalig ausgestellt wurde, sollte er den Menschen als perfekt funktionierende Maschine stilisieren. Heute wird er meist in Zusammenhang mit dem genetisch entschlüsselten Menschen genannt – der gendiagnostische Blick gibt die Intimsphäre preis: Mit einfachen Haaranalysen können Vaterschaften, Erbkrankheiten oder Kokainkonsum nachgewiesen werden. Genomdaten werden auf Disketten gespeichert, um dann die gesundheitliche Zukunft des Menschen zu berechnen.

Doch nicht nur die Metapher vom gläsernen Menschen hat zu verschiedenen Zeiten eine unterschiedliche Bedeutung. Auch die Begriffe Norm und Abweichung sind soziale Konstrukte, die durch gesellschaftliche Verhältnisse bestimmt werden – so lautet die Grundidee der Ausstellung: Behinderungen, die alle Menschen mehr oder weniger haben, normalisieren unseren Alltag. In einer Gesellschaft ohne Behinderte verschieben sich die Grenzen der Normalität immer weiter. Vermutlich ist es einmal möglich, dass Personen ausgegrenzt und „behindert“ genannt werden, die eine Brille tragen oder nur einen Sprachfehler haben.

Wer behindert ist, bestimmen also nicht die Natur oder gar die Gene, sondern die Gesellschaft – die „Behinderer“. Erst die soziale Umgebung macht Behinderte zu Außenseitern, so wie Treppenstufen die eigentliche Behinderung eines Rollstuhlfahrers sind. Diese gesellschaftlichen Dimensionen von Behinderung will die Ausstellung hinterfragen. „Behinderung kann nur im kulturellen Kontext verstanden werden“, sagt die Kuratorin Gisela Staupe. „Es geht uns dabei weniger um politische und wissenschaftliche Aspekte, sondern vor allem um die Bedeutung und Sensibilisierung des Körpers.“ Der Bereich „Welten“ will diesem Anspruch nachkommen und unterschiedliche Zugänge zur körperlichen Wahrnehmung aufzeigen: „Sehen oder nicht sehen, hören oder nicht hören – unsere Vorstellung von der Welt hängt davon ab, mit welchen Sinnen wir sie wahrnehmen können“, so Staupe.

Die Sektionen „Normieren“, „Mauern“ und „Selektieren“ zeigen die dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Behinderten. Während sie im Absolutismus noch in Wunderkabinetten vorgeführt und viele im 19. Jahrhundert Artistenkarrieren in so genannten „Side- oder Freakshows“ machten, leitete die Eugenik, die Erforschung und Abschaffung „krankhafter Erbanlagen“, ein schlimmes Zeitalter für die Behinderten ein: Sie wurden mit grausamen Methoden therapiert, sterilisiert und im Nationalsozialismus sogar systematisch vernichtet.

Der letzte Raum – die „Lichtung“ –schließt an die derzeitige Bioethikdebatte an. Auch dabei fällt wieder der Begriff Eugenik. Im Rahmen von Genchecks und Präimplantationsdiagnostik wird heute oft vor einer neuen Eugenik „von unten“ gewarnt. Denn die Ausweitung des Prinzips von Angebot und Nachfrage auf das genetische Konsumverhalten könnte viel wirksamer die Verwirklichung eugenischer Ziele vorantreiben als jede staatliche Indoktrination.

„Behinderte fühlen sich in dieser Diskussion ausgegrenzt, obwohl doch gerade sie in die Zukunftsplanung einbezogen werden müssten“, gibt Heike Zirden von der Aktion Mensch zu bedenken. Die Sektion „Lichtung“ stellt darum die Behinderten in den Mittelpunkt und umgibt sie mit biopolitischen Zitaten von Politikern und Wissenschaftlern. Anders als viele abgehobene Debatten um die Zukunft des Menschen kann die Ausstellung „Der (im-)perfekte Mensch“ die Thematik in die Öffentlichkeit bringen und für die Menschen wirklich erfahrbar machen.