: Ein Münchner in Berlin
Der Hausbesetzer fürchtet seinen Mieter. Also muss er einen Vortrag über die demokratisch-kapitalistische Ordnung halten
von FELIX HERBST
Es gibt ein Gerücht, das besagt, dass die Funkgesellschaft, für die ich arbeite, von Stasimitarbeitern gegründet wurde. Darauf habe ich nie etwas gegeben. Aber gestern erzählte mir ein Kriminalpolizist, dass es stimmt. Und, fügt er hinzu, es wären nicht irgendwelche Stasispitzel, sondern supergeheime Spezialagenten, deren Auftrag es sei, die Wiedererrichtung der DDR mit allen Mitteln zu betreiben.
Das geht mir durch den Kopf, als ich am frühen Morgen den akkurat gekleideten jungen Mann am Hackeschen Markt winken sehe. Mit Münchner Akzent gibt er sein Fahrziel an. Oberschöneweide. „Das ist ja richtig außerhalb“, sage ich. „Da will keiner hin, wollen Sie damit sagen“, antwortet er etwas trocken. „Das ist auf alle Fälle ungewöhnlich“, sage ich, „wenn so ein eleganter, junger Herr wie Sie nach Oberschöneweide will, wo es ja außer Industrieruinen und ein paar Mietshäusern kaum etwas gibt.“ Ich mache eine kurze Pause, um zu schaun, wie das auf ihn wirkt, und setze dann nach: „Geradezu verdächtig ist das.“ Aber er reagiert nicht. Um ihn zum Reden zu bringen, erzähle ich ihm, was mir soeben durch den Kopf ging, ich erzähle ihm von dem Stasi-Gerücht.
Ich male das in bunten Farben aus. „Stellen Sie sich vor, es gäbe so etwas wie eine revolutionäre Stimmung im Volk, dann erfahren die Taxifahrer zuerst davon, und wenn der Taxifahrer von der Stasi ist, wird er diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Er wird diese Stimmung raffiniert schüren.“ Er lächelt süßsauer und wirft ein, er kenne sich zwar in Berlin nicht so gut aus, aber in München würde es so schnell keine revolutionäre Stimmung geben, die Menschen wären dort sehr zufrieden. „Mag sein“, sage ich, „aber nur mal angenommen, ich wäre von der Stasi“ – er unterbricht mich. „Sie sind sicher nicht von der Stasi. Dafür stellen Sie viel zu wenig Fragen.“ Ich freue mich, als er das sagt, denn jetzt weiß ich, dass ich ihn habe.
„Mal angenommen“, setze ich noch mal an, „ich wäre von der Stasi, dann frag ich mich natürlich, was will der gut gekleidete Typ aus München ausgerechnet in Oberschöneweide?“ – „Das wollen Sie also gern wissen. Gut. Ich hab kein Problem damit, das zu erzählen. Kürzlich hörte ich jemanden sagen, es gibt keine indiskreten Fragen, sondern nur indiskrete Antworten.“ Er ist Eigentümer eines Mietshauses in Oberschöneweide. Und er ist wegen einem Mieter, der Ärger macht, extra nach Berlin gekommen.
Der Mieter hat gekündigt, und seine Wohnung „wie Bombe“ hinterlassen. Heute ist die zweite Wohnungsabnahme, und weil sein Hausverwalter mit diesem Mieter offensichtlich überfordert ist, „muss er die Sache selbst in die Hand nehmen“. Der Kauf des Hauses in dieser Lage war ein Fehler, gibt er zu, das geschah in der Nach-Mauerfall-Euphorie, als alle glaubten, in Berlin liegen die Nuggets jetzt auf der Straße.
Aber nun, wo er das Haus schon einmal hat, will er sich darum kümmern wie ein anständiger Besitzer. Er ist kein geldgieriger Spekulant, der sofort hinwirft, wenn die Rendite nicht stimmt. Er ist sich und seiner Sache treu, auch wenn die Umstände bedrückend sind. Und die Lage in Berlin ist äußerst bedrückend. Zu viele leere Wohnungen, zu wenig Wirtschaft und vor allem: viel zu verkehrte Mentalität. In München, da sind die Menschen gut gelaunt und „schächten“ was weg.
Aber in Berlin können sie sich selbst nicht leiden. Und dann schieben sie es auf die anderen. Dieser Mieter, zum Beispiel, ist bestimmt ein widerspenstiger Ossi, der ihn, den Hauseigentümer aus dem Westen, für einen satanischen Ausbeuter hält. Dabei will er nur, was ihm zusteht. Vor einem Jahr hat er dem Mieter eine saubere, frisch renovierte Wohnung zu einem fairen Preis überlassen, und nun soll er einen Saustall zurückbekommen?
Er hört gar nicht mehr auf zu reden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich vor der Begegnung mit seinem Mieter fürchtet und sich selbst Mut zusprechen muss. Er holt weit aus und hält einen Vortrag über die Vorzüge der demokratisch-kapitalistischen Grundordnung. Kurz gesagt, läuft es darauf hinaus, dass a) jeder so leben können soll, wie er will, dass b) die Leute mehr arbeiten müssen, wenn sie anständig leben möchten, und dass c) wer sich nicht an diese Ordnung halten will, woanders hingehen soll.
Ich höre ihm aufmerksam zu. Nicht jeden Tag erhält man so tiefe Einblicke in die Seele eines Münchner Demokraten. Ich fahre sogar einen kleinen Umweg, um ihm genügend Zeit für seine Ausführungen zu lassen. Er beendet seinen Vortrag, wie er ihn angefangen hat, mit kopfschüttelndem Unverständnis darüber, dass die Menschen in dieser Stadt es nicht zielstrebiger anpacken.
Zufällig überquert gerade ein junger Mann die Straße, obwohl die Fußgängerampel auf Rot steht. „So etwas darf es natürlich nicht geben“, kommentiert er selbstzufrieden und lehnt sich zurück. Wir sind kurz vor dem Ziel. Er fragt mich, ob ich noch etwas anderes mache außer Taxifahren. Ich sage, ich gehöre zu den Menschen, die es vorziehen, wenig zu arbeiten und dafür viel freie Zeit zu haben. Sofort beteuert er, dass er das völlig okay findet. Sehr gut sogar, findet er das. Richtig toll. Er ist plötzlich sehr aufgeregt und hört gar nicht auf, zu betonen, wie super das ist, dass ich so lebe, und ich frage mich, warum er selbst nicht so lebt.
Auf einmal tut er mir Leid, der junge Herr aus München, der sich alle Mühe gibt, alles richtig zu machen, und ich sage zu ihm: „Für mich ist es wichtig, dass es Menschen wie Sie gibt, die viel arbeiten und viel Geld verdienen und mit dem Taxi durch die halbe Stadt fahren, weil sie in ihrem Mietshaus nach dem Rechten sehen wollen. Sie und ich, wir gehören zusammen, wir sind die beiden Seiten der Medaille.“ Das verschlägt ihm etwas die Sprache. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat. Unter lautem Gemurmel verschiedener Ehr- und Höflichkeitsformeln bezahlt er und verlässt fluchtartig den Wagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen