: Das Ende der Sommerfrische
■ Vor 100 Jahren wurde das Bauerndorf Gröpelingen zum Arbeiter-Stadtteil Bremens. Anlass: Die Expansion von „Use Akschen“
Gröpelingen einmal anders: Spaziergänger im Sonntagsstaat promenieren mit Sonnenschirm in der Hand über das Pflaster. Rechts und links der Straße reiht sich ein Ausflugslokal ans andere, und die „Elektrische“ bringt unablässig weitere Erholungssuchende aus der Stadt herbei. „Das war die Sommerfrische der Bremer hier, richtig idyllisch“, erzählt Günter Reichert von der Geschichtswerkstatt Gröpelingen. Doch vor 100 Jahren war damit Schluss: Am 1. April 1902 wurde aus dem Bauerndorf Gröpelingen ein Stadtteil von Bremen. Fortan prägten Arbeitersiedlungen und Industrieanlagen das Bild.
Seine Karriere als Industrievorort Bremens hat Gröpelingen letztlich der Weserbegradigung zu verdanken. Der 1886 erfolgte Durchstich der „Langen Bucht“, einer Weserschleife auf der Höhe von Gröpelingen, machte nämlich das früher in der Flussschleife liegende große Gebiet südwestlich des alten Weserdeiches nutzbar – willkommene Fläche für die Erweiterung der bremischen Hafenanlagen und der Actien-Gesellschaft „Weser“, die auf der Stephanikirchweide in Bremen bereits kleinere Dampfer baute. Ende November 1901 beauftragten Senat und Bürgerschaft die eigens für solche Zwecke vorgesehene „Deputation wegen des Anschlusses von Teilen des Landgebiets an die Stadt“, damit die Eingemeindung von Gröpelingen zu beraten.
Weil die neue Großwerft und die Industriehäfen eine „rasch zunehmende Ansiedelung von Arbeitern in dem unmittelbar benachbarten Dorf erwarten“ ließ, empfahl die Deputation in ihrem Bericht, die gesamte Gemeinde Gröpelingen „so bald wie möglich“ an Bremen anzuschließen. Begründung: Die Ansiedelung müsse „von vorneherein städtische Ordnung in Bezug auf Sicherheitsdienst, Straßen, Erleuchtung, u.s.w. vorfinden.“
Eine kostspielige Angelegenheit: Einem Barvermögen Gröpelingens in Höhe von 4.000 Mark stand die zehnfache Menge an Schulden gegenüber, das Einkommenssteueraufkommen lag im Jahr 1900 unter 2.000 Mark. Und es gab weder Kanalisation noch Straßenpflaster, geschweige denn Laternen. Allein für die Einrichtung eines „Distriktbureaus“ der Polizei – Gröpelingen besaß im 19. Jahrhundert noch nicht einmal einen Dorfpolizisten – veranschlagten die Deputierten 48.000 Mark, Gehälter und Uniformen für die neun Schutzmänner, zwei Wachtmeister und einen Polizeikommissar nicht mit eingerechnet. Auch die Kirchengemeinden, die nur außerhalb der Stadt das Recht hatten, eigene Steuern zu erheben, sollten noch 50 Jahre lang den Bremer Haushalt belasten – Zeit, um die Gläubigen vom Land an die in Bremen übliche Spendenpraxis zugunsten der Kirche zu gewöhnen.
Die am 9. Dezember 1901 von der Bürgerschaft beschlossene Eingemeindung löste einen wahren Bau-Boom in Gröpelingen aus. Während die Bauern ihr Vieh ins Blockland trieben, bebauten private Investorengruppen – „Bauspeculanten“ – die früheren Äcker gleich straßenzugweise mit „Altbremer Häusern“. „Die Arbeiter bewohnten die natürlich nicht mit einer, sondern mit drei oder vier Familien“, weiß Hobby-Historiker Reichert. Gröpelingen wuchs innerhalb von 60 Jahren von weniger als 3.000 auf knapp 50.000 Einwohner an. „Bald in jedem zweiten Haus war ein Kolonialwarenladen“, sagt Reichert.
Die Alt-Gröpelinger nahmen die von Bremen beschlossene „Dorfentwicklung“ anscheinend ohne größere Proteste hin. Gemeindevorsteher Warnken bat im November 1901 lediglich um einige Ausnahmen von den strengen städtischen Vorschriften: Die Bauern wollten auch ohne Laternen an den Wagen bei Nacht ihr Heu und Korn einfahren, und Federvieh sollte auch weiterhin auf der Straße herumlaufen dürfen. Genützt hat die Bitte wenig. Reichert: „Wir wurden industrialisiert.“ hoi
Die Geschichtswerkstatt und Gröpelinger Vereine erinnern am 16. April um 20 Uhr im Gemeindehaus Danziger Straße an die Eingemeindung vor 100 Jahren.
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