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Zur Feier auf vier Masten aufgestockt

Als Etablissement etabliert: Mit zwei ausgefallenen Produktionen feiert die Bar jeder Vernunft ihr 10-jähriges Jubiläum im neuen Zelt am Kanzleramt

Der Taxifahrer war ratlos. Seine Fahrgäste – er im Lodenmantel, sie mit frisch toupierten Locken – standen in der Schaperstraße in der Höhe der verlassen und verwaist daliegenden Freien Volksbühne und schauten sich suchend um. Hier irgendwo sollte ein Varietétheater sein, aber außer einem Parkplatz samt Parkdeck war nichts zu sehen. Sie fühlten sich offenkundig in die Irre geleitet und waren doch genau richtig.

Diese Szene spielte sich so erstmals vor ungefähr neun Jahren ab, aber ähnlich ging es seither vielen: Auf die Idee, dass sich ausgerechnet auf dem Dach eines Betonparkplatzes, hinter Büschen versteckt, ein historisches Spiegelzelt mit Gastronomie- und vor allem Theaterbetrieb niedergelassen haben soll, kommt man ja nun wirklich nicht sofort.

Und zudem ist es nicht nur irgendeine Tingeltangelbühne: Die Bar jeder Vernunft, die in diesem Juni ihr zehnjähriges Bestehen feiert, hat sich zu einer der ersten Adressen im deutschsprachigen Raum in Sachen Chanson- und Kleinkunst entwickelt. Wer es schafft, ein Engagement an diesem Ort zu bekommen, darf sich aufgenommen fühlen in den erlauchten Kreis der Topkünstler des Genres.

Das Konzept der beiden Betreiber, Holger Klotzbach und Lutz Deisinger, klingt schlicht und war doch umso schwieriger umzusetzen: die Genres zu sprengen, an die Traditionen der Unterhaltungskunst in Deutschland anzuknüpfen und mit neuen, gegenwärtigen Formen und jungen Talenten zu verbinden. Das finanzielle Risiko dieses unsubventionierten Theaters war entsprechend groß, die Durststrecke lang. Das Durchhaltevermögen aber zahlte sich auf lange Sicht aus. Die Bar jeder Vernunft hat Künstlern wie Gayle Tufts, Tim Fischer, Georgette Dee oder Cora Frost eine Art Heimstatt geboten und im Gegenzug bedanken sie sich mit einem volle Haus.

Wer in den diversen Berlinreiseführern blättert, findet das Etablissement manchmal noch unter „Geheimtipp“, bisweilen wird es auch schon als kulturelles Pflichtprogramm zwischen Pergamonaltar und Castorf-Theater an der Volksbühne geführt. Immerhin: Anders als andere private Unterhaltungstheater in der Stadt hat man bislang der Versuchung widerstanden, sich die touristischen Zuschauer busladungsweise vor die Türe karren zu lassen. Das bewahrt das Flair, den Reiz des Besonderen und die Mischung des bürgerlich-intellektuellen, kulturell versierten und interessierten Publikums.

Die Gratwanderung zwischen Kunst und nötigem Kommerz ist sichtlich nicht leicht, gleichwohl ist es aber gelungen, über die Jahre hinweg sich die Experimentierfreudigkeit im Rahmen der Möglichkeiten (und manchmal auch darüber hinaus) zu bewahren. Die Benatzky-Operette „Im Weißen Rössl“ 1994 mit den Geschwistern Pfister war ein solches verlustreiches, aber imageträchtiges Projekt, ebenso die aufwändige Koproduktion von „The Voice of Snow White“ mit dem Ensemble, die im Hebbel Theater über die Bühne ging. Mit „Drei alten Schachteln in der Bar“ wurden Brigitte Mira, Helen Vita und Evelyn Künneke für eine selbstironische Show auf die Bühne zusammengeholt, die anschließend bundesweit erfolgreich auf Tour ging.

Talentschmiede und Karrieresprungbrett ist die Bar jeder Vernunft auch in jenen Zeiten geblieben, da man sich mit den eingeführten Hausstars hätte ein ruhiges, sicheres Leben bescheren können. Einem jungen, völlig unbekannten Comedian wurde monatelang in der Mitternachtsshow Gelegenheit gegeben, sich sein Publikum zu erspielen. Heute ist Michael Mittermeier wohl der erfolgreichste seiner Branche überhaupt. Meret Becker begann mit zwei, drei Songs im Repertoire sich als Chansonette auszuprobieren, und das Musikkabarettduo Malediva erhielt die entscheidende PR, um sich verdientermaßen als eines der innovativsten Künstlerpaare ihrer Gattung durchzusetzen.

Die beiden Hausherren können sich also auf die Schultern klopfen, und das wird zum Jubiläum sehr lautstark gemacht. Mit zwei aus dem Rahmen fallenden Eigenproduktionen (Christopher Durangs Komödie „Therapie zwecklos“ als Dinner-Theater [u. a. mit den Geschwistern Pfister, Ades Zabel, Meret Becker und Stefan Kurt], Cora Frost inszeniert ihr Musiktheaterstück „Palast der Liebe“). Gefeiert wird aber außer Haus in einem nagelneuen Zelt. „tipi“ wird es heißen, benannt nach einem Begriff der Dakota für Wohnzelt. Das 550-Plätze-Theater wird eigens zur Jubiläumsrevue am 7. Juni in der Nähe des Bundeskanzleramts errichtet. Genau dort, wo das Tempodrom wegen der Baumaßnahmen für das Regierungsviertel die Zelte abschlagen musste. Einen Sommer lang gibt es dort breitenwirksames Entertainment u. a. mit den Tiger Lillies, Götz Alsman, dem Cirque Invisible, den Ten Tenors und Hudson Shad. Danach zieht man mit dem Viermaster innerhalb Berlins wieder um. Wohin, wird vorerst noch nicht verraten.

AXEL SCHOCK

Bar jeder Vernunft, Schaperstraße 24 (Wilmersdorf), Kartentelefon 8 83 15 82, www.bar-jeder-vernunft.de

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