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„Hilfe übers Gängige hinaus“

Interview CHRISTIAN RATH

taz: Herr Krasney, nach dem ICE-Unglück von Eschede wurden Sie 1998 als Ombudsmann für die Interessen der Opfer eingesetzt. War das in Deutschland ein Novum?

Otto Ernst Krasney: Ja. Nach Eschede wurden Standards gesetzt, hinter die man künftig wohl nicht mehr zurückkann.

Warum brauchen Verletzte und Hinterbliebene nach derartigen Unfällen einen Ombudsmann?

Sie brauchen jemand, der sicherstellt, dass sie psychosoziale Betreuung bekommen. Und jemand, der in dieser schrecklichen Situation als Ansprechpartner für alle Probleme des Alltags bereitsteht.

Wie häufig wurde von diesem Angebot Gebrauch gemacht?

Am Anfang bekam ich 25 bis 30 Anrufe pro Tag. Da brauchten etwa Verwandte ein Hotelzimmer, wenn sie Verletzte im Krankenhaus besuchten. Oder ich half Hinterbliebenen bei der Auflösung einer Wohnung. Viele Frauen hatten nicht einmal eine Vollmacht zum Konto ihres getöteten Mannes, auch da konnte ich vermitteln …

Die psychologische Betreuung haben Sie aber nicht selbst übernommen?

Nein, da habe ich mit freiberuflichen Psychologen zusammengearbeitet. Zeitweilig hatten wir 16 Gesprächsgruppen in der ganzen Bundesrepublik, an denen rund 200 Personen teilgenommen haben. Gelernt habe ich dabei, dass Verletzte und Hinterbliebene jeweils eigene Angebote brauchen.

Warum?

Hinterbliebene empfinden und bewältigen ihre Trauer anders als die beim Unfall Verletzten. Dem Satz der Hinterbliebenen: „Seien Sie froh, dass Sie noch leben“ steht häufig die bittere Frage der Verletzten gegenüber: „Sehen Sie nicht, wie ich leide?“ Deshalb mussten wir getrennte Gruppen einrichten.

Wer hat all das bezahlt?

Für die unbürokratische Alltagshilfe und die psychosoziale Betreuung hat mir die Bahn einen Fonds mit 5 Millionen Mark zur Verfügung gestellt. Und nach dem Unglück von Brühl kamen noch einmal 2 Millionen Mark hinzu. Außerdem hatte ich ein Büro in Frankfurt mit bis zu zehn Mitarbeitern.

Sie wurden vom Vorstand der Deutschen Bahn AG eingesetzt. Sind Sie faktisch ein Bahn-Vertreter?

Nein, auf keinen Fall. Aber mit solchen Vorwürfen muss man natürlich rechnen, wenn der Schädiger den Ombudsmann einsetzt.

Wäre es besser gewesen, wenn die Opfer sich selbst einen Ombudsmann gewählt hätten?

Nein, direkt nach dem Unglück haben Verletzte und Hinterbliebene sicher andere Probleme. Am besten wäre es, wenn eine offizielle Stelle den Ombudsmann bestimmt.

Wie kam die Bahn gerade auf Sie?

Als langjähriger Vorsitzender des Unfallsenats am Bundessozialgericht kannte ich alle Unfallkliniken Deutschlands und alle Versicherer. Außerdem war ich relativ frisch pensioniert, hatte also die erforderliche Zeit.

Als Jurist waren Sie ja sicher auch Ansprechpartner für die Schadensersatzprobleme …

Ja, obwohl das anfangs gar nicht geplant war. Aber nachdem die Bahn sagte, sie wolle schnell und unbürokratisch helfen, haben sich die Betroffenen dann auch an uns gewandt und nicht an die Versicherungen.

Wie waren Ihre Erfahrungen mit der Bahn?

Mit dem Bahn-Vorstand bin ich relativ schnell zu guten Ergebnissen gekommen. Er hat zugesichert, dass die Bahn so entschädigt, als hätte sie den Unfall verschuldet.

Ein echtes Schuldeingeständnis konnten Sie der Bahn aber nicht abringen?

Nein, die Bahn ist überzeugt, dass sie kein Verschulden trifft, und den Opfern hätte ein Schuldeingeständnis ja auch keine Mark mehr gebracht.

Sind Sie mit den finanziellen Leistungen, die die Bahn erbringt, zufrieden?

Die Bahn hat bisher insgesamt 45 Millionen Mark an Schadensersatz und Schmerzensgeld bezahlt. Einzelpersonen, die einen Betrieb oder einen Beruf aufgeben mussten, haben neben den Renten – die die Bahn der Rentenversicherung laufend zu erstatten hat – bis über 2 Millionen Mark erhalten. Auf meinen Rat hin hat die Bahn im Großen und im Kleinen in der Regel umfassend Schadensersatz geleistet.

Streit gibt es vor allem um das Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen …

Hier hat die Bahn für jeden getöten Fahrgast 30.000 Mark an die Hinterbliebenen ausbezahlt. Und damit hat das Unternehmen durchaus eine Vorreiterrolle eingenommen.

Warum?

Nach deutschen Recht können Angehörige nur dann Schmerzensgeld verlangen, wenn sie selbst nach dem Todesfall psychisch erkrankt sind. Die Bahn hat jedoch eine solche Erkrankung generell unterstellt und es damit den Angehörigen erspart, ihre psychische Belastung mit Gutachten beweisen zu müssen. Auch bei der Höhe des Schmerzensgeldes ging die Bahn mit 30.000 Mark um rund das Dreifache über das Gängige hinaus.

In einem Musterprozess versucht gerade der Berliner Anwalt Reiner Geulen Schmerzensgelder von 250.000 Euro pro Person durchzusetzen. Ist das für den Verlust eines Menschen nicht eher angemessen?

Der Verlust eines Menschenlebens ist nie angemessen zu beziffern. Und ich fände es auch nicht richtig, wenn man nur deshalb ein besonders hohes Schmerzensgeld erhält, weil der Schädiger ein finanzkräftiges Unternehmen wie die Bahn ist. Denken Sie zum Vergleich nur an die vielen Todesopfer auf deutschen Autobahnen. Was Rechtsanwalt Geulen fordert, ist völlig außerhalb der Rechtsordnung. Wir haben in Deutschland nun mal ein relativ niedriges Schmerzensgeldniveau.

Geulen droht deshalb schon mit einer Klage in den USA …

So einfach ist das ja auch nicht. Wie man hört, sind US-Gerichte nicht sehr erfreut darüber, wenn nur deshalb dort geklagt wird, weil man höhere Schmerzensgelder erhofft.

Finden Sie die Prozesse also völlig illegitim?

Das habe ich nicht gesagt. Im Rechtsstaat ist es normal, dass Gerichte angerufen werden, wenn man sich nicht einigen kann.

Sie empfinden das nicht als persönliche Niederlage?

Nein. Eine Klage an sich ist keine Katastrophe. Ich wollte nur dafür sorgen, dass bis zu einer Klage kein unnötiges Porzellan zerschlagen wird.

Der Opferverband „Selbsthilfe Eschede“ wirft sowohl Ihnen wie auch der Bahn vor, dass Sie die Selbstorganisation der Betroffenen behindert haben …

Weder ich noch die Behörden konnten die Adressen aller Angehörigen und Verletzten an Privatpersonen wie den Gründer der Selbsthilfe herausgeben. Dazu stehe ich auch noch heute. Ich habe deshalb die Betroffenen angeschrieben und zweimal auf die Gründung der Selbsthilfe hingewiesen. Von Behinderung kann also nicht die Rede sein.

Im Raum steht auch der Vorwurf, dass die Bahn private Spendengelder für ihre Schadensersatzzahlungen benutzt hat …

Auch das ist nicht richtig. Über die Spendengelder aus der Bevölkerung konnte nur ich als Ombudsmann verfügen. Und ich habe damit vor allem Notlagen gelindert, die durch das Unglück zwar nicht ausgelöst, aber verschlimmert wurden, zum Beispiel wenn eine Familie kurz vor dem Unfall auseinander gebrochen war. Schadensersatzansprüche gegen die Bahn wurden in keinem Fall aus Spendenmitteln befriedigt.

Hat die Bahn eigentlich auch Sie bezahlt?

Die Bahn wollte mir ein monatliches Salär zahlen. Das habe ich aber abgelehnt, weil ich als ehemaliger Bundesrichter ja eine ausreichende Pension habe. Ich bekomme nur für die Tage, an denen ich als Ombudsmann tätig bin, eine Aufwandsentschädigung.

Warum hören Sie nun zum Ende des Monats auf?

Ich habe immer gesagt, wenn die allgemeine psychosoziale Betreuung abgeschlossen ist, alle vorrechtlichen Fragen geklärt sind und sich im Wesentlichen nur noch die Gerichte mit dem Fall beschäftigen, dann ist meine Mission beendet. Im Übrigen kennen die Opfer meine Telefonnummer. Wenn sie Hilfe benötigen, können sie jederzeit mich und meine Frau anrufen.

Ihre Frau auch?

Ja, meine Frau hat inzwischen vor allem mit betroffenen Frauen viele persönliche Kontakte geknüpft.

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