: Kinski ohne Bruch
An der Schnittstelle von Papas Kino und dem Jungen Deutschen Film: Mit „Der Rote Rausch“ stand der deutsche Heimatfilm 1962 kurz vor dem Durchbruch in die Moderne
Das Kinski-Phantom spukt immer noch durchs deutsche Kino. Es hat viele Gesichter, kann aber kaum noch erschrecken. Der deutsche Film ist selbst schon schrecklich genug, da braucht es heute keinen Kinski mehr (nicht den Villon-Kinski und auch nicht das Herzog-Rumpelstilzchen), um das hilflose Delirieren zwischen manischer Selbstkontrolle und Chargentum als menschliche Tragödie auf die Leinwand zu bringen. Er ist selbst schon eine.
Jetzt also hat sich in den Archiven des Leo Kirch, neuerdings auch so eine tragische deutsche Mythenfigur, ein weiterer, bislang verschollen geglaubter Kinski-Film gefunden, der das Phantom erneut beschwört, der dem Ungreifbaren ein neues Gesicht geben soll. Aber „Der Rote Rausch“ von 1962, so unschlagbar fehlgeleitet und wirklich berührend Kinski hier auch spielt, ist kein Bruch im Mythos Kinski, wie einem die Filmkritik glauben machen will, allenfalls eine neue, bisher lediglich ahnbare Facette des Genius: Der Film fügt sich als das Diskontinuum, das er in diesem Gesamtwerk darstellt, perfekt in die Kinski-Geschichtsschreibung ein.
Als „jemand, den die Angst um den Verstand gebracht hat“, ist Kinski in „Der Rote Rausch“ sogar für den einfachen Bauerntölpel leicht erkenntlich. Aber Kinski schafft es auch immer wieder durch kleine Gesten, dem Verlorensein eine würdevolle Tiefe zu geben. Sein Josef Stief war eine seltene Figur bis zum Jahr null des deutschen Nachkriegskinos, dem Jahr des Oberhausener Manifests. Ein gesellschaftlicher Außenseiter ohne Vergangenheit, der an dem Schmerz der Schwärze in seinem Kopf zerbrochen ist. Auf der Flucht aus einer „Anstalt für kriminelle Geisteskranke“ landet Kinski auf einem Bauernhof im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet und bekommt dort eine Stelle als Lohnarbeiter. Kathrin, die Tochter des Gutshofbesitzers, findet wie auch der Zuschauer Gefallen an den gehetzten, warmen Augen KKs; dagegen steht der proletarierhafte Machismo Sieghard Rupps, der sich als Vorarbeiter Hoffnungen auf die Nachfolge des Gutshofbesitzers macht. Klare Rollenvorgabe also, wie im Western.
Mit „Der Rote Rausch“ stand der deutsche Heimatfilm kurz vor dem Durchbruch in die Moderne. Sieben Jahre später flogen in Fleischmanns „Jagdszenen aus Niederbayern“ dann die Düsenjäger im Tiefflug über die Alm. Der Film markiert aber auch den kurzen Überschneidungsmoment zwischen „Papas Kino“ und dem Jungen Deutschen Film, der im Jahr der Veröffentlichung von „Der Rote Rausch“ ausgerufen wurde. An diesem Widerspruch hätte eigentlich eine ganze Filmemacher-Generation verzweifeln können. Regisseur Wolfgang Schleif hatte in den Vierzigern schon mit Veit Harlan gearbeitet, insofern ist „Der Rote Rausch“ mit seinen erfrischend kargen Schwarzweißbildern fast eine unerhörte Anmaßung derjenigen, die man kurz darauf im deutschen Sozialrealismus überwunden geglaubt hatte. Viel spannender als die neuesten Erkenntnisse der Kinski-Forschung ist damit also die Frage nach den (heimlichen) ästhetischen Ausläufern des Defa-Films, die sich in den Bildern von „Der Rote Rausch“ aufdrängt.
ANDREAS BUSCHE
„Der Rote Rausch“. R.: Wolfgang Schleif, D.: Klaus Kinski, Brigitte Grothum; BRD 1962, 88 Min., in den Kinos Blow Up und Filmbühne am Steinplatz
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