: Angst mit Berechnung konfrontiert
Iris Berben liest Tagebücher von Anne Frank und Joseph Goebbels ■ Von Christian Rubinstein und Andreas Speit
Wenn in diesen Tagen Neonazis sich zu Aufmärschen versammeln, ist Geschichtsklitterung Teil ihrer Lieblingspropaganda. Gegen solche Umtriebe wendet sich die Schauspielerin Iris Berben derzeit mit einer Veranstaltungsreihe. Heute Abend etwa ist sie in der Musikhalle zu Gast. Sie liest aus den Tagebüchern der Anne Frank und denen von Joseph Goebbels. Die Lesung wird von Musik begleitet, die die Nazis für verfemt erklärten.
Berben will „Farbe bekennen“ gegen den Rechtsradikalismus, der alle Gesellschaftsschichten berührt. „Für mich ist es einfach unbegreiflich, dass man 50 oder 55 Jahre nach Kriegsende seine Geschichte am liebsten verabschieden möchte.“ Die Schauspielerin will Hilfestellung leisten, wo ein Bezug zur deutschen Vergangenheit verloren zu gehen droht.
„Ich hoffe, dass du eine große Stütze für mich sein wirst“, war einer der ersten Sätze, die Anne Frank unter dem Datum 12. Juni 1942 in ihr Tagebuch schrieb. Sie hatte das Buch zu ihrem 13. Geburtstag bekommen, und so handelten die ersten Eintragungen von Geschenken und Besuchen. Doch schon einen Monat später musste Anne mit ihrer Familie in Amsterdam untertauchen. Zwei Jahre konnten sie sich der Judenverfolgung entziehen, bis sie am 4. August 1944 in ihrem Versteck verhaftet wurden. Diese zwei Jahre im „Hinterhaus“ hat Anne Frank in ihrem Tagebuch dokumentiert. Nach dem Krieg wurde daraus eine Erinnerungsstütze wider das Vergessen.
Das Erinnern an die faschistischen Verbrechen ist heute vor neue Probleme gestellt: Es gibt immer weniger noch lebende Zeitzeugen. Da gewinnt ein historisches Dokument wie das Tagebuch der Anne Frank, das durch plastische Schilderung besticht, an Bedeutung. Auch Berben und Regisseur Michael Verhoeven nutzen diese Qualität des Textes für ihre Lesetournee. Ungewöhnlich ist es, die Opfersicht mit den Tagebüchern eines Täters zu konfrontieren. Denn auch Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hat Tagebuch geschrieben. Berben: „Manchmal decken sich die beschriebenen Ereignisse, wenn wir Eintragungen vom gleichen Tag gegenüberstellen. Das perfide an Goebbels Berichten ist die ungeheure Berechnung, die dahinter steht.“
Verhoeven hat daher nicht die bekannten aggressiven Propaganda-Tiraden ausgewählt. Es geht ihm eher um die Angst der Täter und die der Opfer: „Diese Ängste gegeneinander zu stellen erscheint mir aufschlussreicher als das bekannte Prinzip, die Wahrnehmung der Opfer mit den Parolen der Funktionäre von Zerstörung und Mord zu kontrastieren.“
Mit den beiden Tagebüchern werden zwei konkurrierende Weltsichten gegenübergestellt. Schon während des Zweiten Weltkriegs wurde die Wichtigkeit erkannt, die Geschichtsdeutung nicht den Nazis zu überlassen. Auch Anne Frank hörte im März 1944 einen Aufruf des niederländischen Unterrichtsministers aus dem Exil in London. Der Minister wies darauf hin, dass die Besatzungszeit nach dem Krieg dokumentiert werden müsse. Da-raufhin begann sie eine zweite Version ihres Tagebuchs, die für die Veröffentlichung bestimmt war. Anne Frank wurde im KZ Bergen-Belsen ermordet. Ihr Vater überlebte als einziges Familienmitglied und brachte die Tagebücher seiner Tochter zur Veröffentlichung. 1955 hatte in New York ein Theaterstück über die Zeit im Hinterhaus Premiere. Vier Jahre später folgte eine Hollywood-Verfilmung. Vielfach ist darüber gestritten worden, ob diese Produktionen dem historischen Kern gerecht geworden sind. Leider hat die komplizierte Gemengelage der Veröffentlichungen Leugnern der faschistischen Gräueltaten Anlass geboten, die Echtheit des Tagebuchs anzuzweifeln. 1986 ist eine wissenschaftliche Bearbeitung erschienen, die die Anschuldigungen widerlegt.
Doch das Wachhalten der Erinnerung gefällt nicht allen. Denn anlässlich der Lesereise erhält Berben Drohbriefe von Neonazis. Nicht zum ersten Mal. „Wann immer ich etwas gegen den Nationalsozialismus sage“, sagt sie, „ bekomme ich Briefe mit Hakenkreuzen und Drohungen.“ Die 51-jährige Schauspielerin will sich jedoch nicht einschüchtern lassen. Bereits bei ihren Lesungen aus dem Buch Mama, was ist Auschwitz von Annette Wieviorka wurde sie bedroht. Diese Briefe seien dumm, erklärt Berben. Für viel gefährlicher hält sie aber, „wie unbedacht mittlerweile auch etablierte Menschen über das Thema reden“. Im Herbst will der Zentralrat der Juden in Deutschland Iris Berben mit dem Leo-Baeck-Preis ehren.
Das Tagebuch der Anne Frank – Die Tagebücher des Joseph Goebbels – Verfemte Musik: heute, 20 Uhr, Musikhalle
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