: Sehnsucht nach Heimat und Liebe
Als Kind wurde Gideon Behrendt durch einen Kindertransport vor den Nazis gerettet. Seine Erinnerungen lesen sich wie ein Abenteuerroman
Gideon Behrendt, Jahrgang 1924, hat seine Memoiren ursprünglich nur für seine eigenen Kinder geschrieben. Aber der Text wurde von dem renommierten Antisemitismus-Forschers Wolfgang Benz entdeckt, der ihn in seine Reihe „Lebensbilder. Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse“ aufnahm. Vor allem der Aspekt „Kindertransport“, immer noch vernachlässigt in der Schoah-Geschichtsschreibung, scheint Benz interessiert zu haben. Nur: Der Titel „Mit dem Kindertransport in die Freiheit“ verspricht bedeutend mehr als das Buch hält: Gerade mal ein Drittel des Werkes handelt von Behrendts Kindertransport.
Aufgewachsen als jüdischer Knabe im Berlin der Nazizeit und durch einen Kindertransport nach England vor den Nazihäschern gerettet, wird Behrendt erst Kellner in London und dann Unteroffizier in der britischen Armee. Er springt über der Normandie ab, ist an der Eroberung des deutschen Reiches durch die Alliierten beteiligt, erlebt die Nachkriegszeit als Besatzungssoldat im Rheinland und wandert schließlich recht schnell nach seiner Demobilisierung nach Palästina aus.
Hier beteiligt er sich am Unabhängigkeitskrieg Israels, wird 1957 aus der israelischen Armee entlassen, arbeitet ein paar Jahre in einer Fabrik, betreibt dann eine Reitschule und wird schließlich nach einem Aufbaustudium Sonderpädagoge für Behinderte. Ein bewegtes Leben also, von dem Gideon Behrendt die erste Hälfte bis zur Ankunft im Heiligen Land aufgeschrieben hat.
Obwohl der Titel also in die Irre führt, erzählt Behrendt durchaus kurzweilig: von seiner Zeit als gut verdienender Chefkellner in London während des Krieges, als er berühmte Schauspieler wie Laurence Olivier bediente; von einer folgenschweren Prügelei mit seinem Vorgesetzten in einer britischen Eliteeinheit (der Schottengarde); und nicht zuletzt von dem Wagnis, als junger Zionist illegal nach Palästina auszuwandern. Er stand im ständigen Loyalitätskonflikt mit England – dem Land, das ihm Schutz gewährte als Kind, dessen Fahne er diente und das er nun bekämpfte, da es als Mandatsmacht über Palästina die jüdische Einwanderung verhindern wollte.
Diese Geschichten sind meist interessant, phasenweise sogar packend erzählt. Auf die Nerven geht einem allerdings der penetrante Macho-Ton, der sich durch das ganze Buch zieht. Das fängt schon mit der Schilderung seiner Synagogenbesuche in der Kindheit an, wo er nur Blicke für die Mädels gehabt habe. Behrendt schildert die Folgen seiner ersten Liebesnacht: „Von da an war ich den größten Teil meines Lebens verliebt. Ich war stets heiß verliebt in das eine Mädel, bis ich mich in ein anderes genauso heiß verliebte. Die Welt war so wunderbar, so groß und voller verlockender Frauen.“ Es geht weiter, wenn er beschreibt, was ihn an einen Kameraden band: „Wir teilten unsere große Vorliebe fürs schwache Geschlecht – Girls!“ Und der Höhepunkt ist die Sentenz: „Kurz darauf wurde sie noch einmal erfreut und zufrieden gestellt, während ich mir wie ein Preisbulle oder Hengst vorkam.“ So genau wollte man es dann doch nicht wissen.
Man kann diese Passagen psychologisieren: Hier wird die Geschichte eines vernachlässigten Jungen und Außenseiters erkennbar, der, wie er mehrmals selbst schreibt, so entwurzelt ist, dass er nach Nähe und Freundschaft geradezu giert. Behrendt findet sie bei Frauen. Vielleicht kann man auch die zwei anderen Konstanten seines Lebens – den Kampf gegen Hitler und am Ende das Ziel der Auswanderung nach Israel – als eine Sehnsucht nach Identität, Heimat und Lebenssinn deuten.
Das Buch ist trotz der Bedenken zu empfehlen. Denn es vermittelt etwas vom Denken eines willensstarken und gewitzten Mannes, der die mörderischen Zeitumstände zwar nicht stark reflektierte, aber sich beherzt mit ihnen auseinandersetzte. In manchen Passagen hat das Werk ein wenig von einem Simplicissimus, ein Abenteuerroman und Zeitspiegel. Es ist deshalb gut, dass Behrendt seine Erinnerungen aufgeschrieben hat. Für seine Kinder. Und für uns.
PHILIPP GESSLER
Gideon Behrendt: „Mit dem Kindertransport in die Freiheit. Vom jüdischen Flüchtling zum Corporal O’Brian“, 204 Seiten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2001, 9,90 €
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