Dokumentation
: Werte in Worten

■ LehrerInnen schreiben offenen Brief an Schulsenator Lange

In der Grundschule Wegenkamp in Stellingen gibt es seit 20 Jahren ausschließlich Berichte. Die LehrerInnen der Schule, die von der Bertelsmann-Stiftung als eine der innovativsten Deutschlands ausgezeichnet wurde, wenden sich in einem offenen Brief an Schulsenator Rudolf Lange (FDP) gegen dessen Absicht, ab Klasse 3 Notenzeugnisse verbindlich zu machen. Wir dokumentieren in Auszügen.

„Sehr geehrter Herr Senator Lange, müssen wir noch einmal all die Argumente aufzählen, die für Berichte und gegen Noten sprechen? Müssen wir nicht, aber wir tun es, denn es dient der Sache: Noten dienen der Aussonderung – Berichte dienen der Förderung von Kindern. Noten orientieren sich nicht an den Bemühungen der einzelnen Kinder (...) – Berichte geben Auskunft über die individuellen Lernfortschritte (...). Noten verstärken Angst und Konkurrenz und blockieren damit die Leis-tungsbereitschaft – Berichte ermutigen die Kinder, verbessern das soziale Klima und erhöhen damit die Lernmotivation. Dies alles ist nicht nur wissenschaftlich erwiesen, sondern wird in vielen anderen Ländern erfolgreich in die Praxis umgesetzt, so unter anderem in Italien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland. (...)

Wenn wir uns die in ihrem Programm verwendeten Begriffe ansehen, scheint es wenig Uneinigkeit zu geben: Sie wollen Leis-tung? Das wollen wir auch. Sie wollen sach- und wissenschaftsbezogenen Unterricht, mit klaren Strukturen? Einverstanden. Sie wollen Leistungsbewertung mit Orientierung? Jawohl, auch da sind wir einer Meinung. Warum dann also der Ruf nach Noten? (...)

Träumen Sie von einer Schule, in der die Schüler in Reih und Glied sitzen, brav den Anweisungen des Lehrers folgen (...), zuverlässig ihre Hausaufgaben erledigen und – falls sie in Betragen oder Mathematik doch einmal eine (...) 5 oder 6 bekommen, sich anschließend auf den Hosenboden setzen, damit das nie wieder vorkommt?! Vergessen Sie's. So funktioniert das nicht mehr. Wenn Sie als Lehrer versuchen, die heutigen Schüler mit Noten zu disziplinieren, werden die sich – mit Verlaub – ein Ei darauf backen und Ihnen Ihre schöne Schule anschließend mit Graffiti beschmieren (...). Oder träumen Sie von einer Schule, in der sich das hochbegabte Kind auch nach der zwanzigsten 1 immer noch mit leuchtenden Augen auf die nächste Aufgabe stützt?! Leider falsch. Denn dieses Kind wird sich zurücklehnen und es wird vergessen, was Anstrengung bedeutet (...). Wenn Sie – und dies ist der Normalfall – dieses gesamte Spekt-rum an Schülern in einer Grundschulklasse haben, und wenn sie jeden Schüler in seiner Individualität und seinem Bemühen um Lernerfolge und gute Leistungen ernst nehmen, dann kommen Sie als Lehrer um eine individuelle Leistungsbewertung, d.h. um Berichte, nicht herum. (...)

Sollten Sie Zweifel an der Ernsthaftigkeit unserer Argumente haben oder daran, dass die Kinder an unserer Schule (...) fleißig lernen und viel leisten, dann sollten Sie sich über die Arbeit in unseren Klassen oder unserer Forscherwerkstatt informieren. An unserem Willen, weiterhin Berichte zu schreiben, sollten Sie nicht zweifeln.“