berlin buch boom H.-J. Fohsels „Berlin, du bunter Stein, du Biest“
: Berlin sehen und sterben

Hermann-Josef Fohsel kann als Großstadtflaneur im Sinne Georg Simmels gelten. Spaziert der Historiker und Autor kulturgeschichtlicher Bücher über Berlin doch das ganze Jahr durch die Stadt. Im Schlepptau Touristen und Berliner, die mehr über die Historie ihrer Heimatstadt erfahren möchten. Fohsel wandert auf den Spuren von Juristen und Philosophen. Besucht das Haus, in dem einst Mozart nächtigte. Klingelt im Geiste an der Haustür von Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai und Lessing. Oder führt zur Stelle, wo Fontane sich verlobte. Viele Geistesgrößen, die jemals in Berlin lebten, finden Erwähnung auf einer seiner Routen durch die Kulturgeschichte der Stadt.

Ähnlich verhält es sich mit den „Biographischen Erkundungen“ in Buchform, die Fohsel unter dem Titel „Berlin, du bunter Stein, du Biest“ zusammentrug. Egal, ob nur Zwischenstation oder Ziel der Lebensreise: Berlin diente von jeher als Knotenpunkt schicksalhafter Begegnungen von Poeten, Künstlern, Politikern und Revolutionären.

Der 54-jährige gebürtige Koblenzer lebt seit den 60er-Jahren in Berlin, arbeitet als Musik- und Theaterkritiker, Buchhändler und Opernstatist. Er flaniert durch Leben und Werk seiner Akteure, folgt wie ein Reporter den Spuren in der Berliner Stadtwildnis, verlässt aber auch immer wieder die Stadtgrenzen, führen die Biografien doch auch nach Wien, Paris, London und Rom.

Rom sehen und sterben! Kairo ist die „Mutter aller Städte“. Athen die „Stadt der Weltgeschichte“. Paris gilt als Stadt der Liebe und schuf den Typ des Flaneurs. Doch Berlin? „Die preußische Hauptstadt, von der hier eigentlich die Rede sein soll?“ Da wird nicht flaniert. „Da bummelt man durch märkischen Sand und versucht der Langeweile zu entfliehen, die an jeder Ecke auf einen wartet“, schreibt Fohsel mit Blick auf die Zeitepoche, als Simmel um 1900 zum ersten Mal den Charakter des Großstadtflaneurs beschrieb.

Mozart zum Beispiel reiste im Mai 1789 nach Berlin. Er bezog am 19. Mai Quartier am Gendarmenmarkt, noch am selben Abend soll er die Aufführung der „Entführung aus dem Serail“ besucht und einen falsch spielenden Violinisten „angeblafft“ haben. Fünf Tage später hielt es Mozart nicht mehr in der Stadt. Auch Voltaire lebte hier nur kurze Zeit. Im Dezember 1752 hatte er fast fluchtartig Potsdam verlassen müssen und zog nach Berlin. Im März 1753 verließ er für immer die Stadt, die ihm zu „brenzlig“ geworden war. An seine Nichte schrieb Voltaire: „Ich sehe wohl, da man die Orange ausgepresst hat, muss man darauf bedacht sein, die Schale zu retten.“

Andere hielten länger aus. Heinrich von Kleist etwa, der zeitlebens als ziemlich arm galt. Doch Fohsel klärt darüber auf, das Kleist auch in Hotels erster Kategorie wohnte. Das widerlege die „Mär vom armen Kleist, der immer am Existenzminimum herum lebte“.

Es wimmelt nur so vor solchen amüsanten Geschichten. Geistesgrößen wie E. T. A. Hoffmann oder Sören Kierkegaard werden dadurch menschlicher. Und man weiß nie, wohin es einen treibt, wird zum Mitreisenden, zum Flaneur in den biografischen Erkundungen. Das ist spannend, aufschlussreich und gut geschrieben. „Berlin, die Stadt, in der sich Schicksale kreuzen, ist nicht am Meer und dennoch von Gezeiten geprägt. Berlin liegt nicht im Grünen und trotzdem ist hier gegen alles ein Kraut gewachsen. Und Berlin hat viel Stein – und der kann reden und ist bunt.“

ANDREAS HERGETH

Hermann-Josef Fohsel: „Berlin, du bunter Stein, du Biest“. Koehler & Amelang München/Berlin, 372 Seiten, 19,90 €