: Durchsichtige Manöver
Wahlen in Frankreich (3): Die Politiker instrumentalisieren die Kriminalität im Wahlkampf. Das nutzt vor allem den Rechten und grenzt die sozial Schwachen aus
Über einen Mangel an Polizisten können sich die Franzosen nicht beklagen. Schon 1999 kam bei ihnen ein „Flic“ auf 252 BürgerInnen. Sein deutscher Kollege musste für 296 Einwohner da sein, sein britischer für 380. Im EU-Durchschnitt lag das Verhältnis bei 1 zu 310.
Seither ist die Zahl der Polizisten in Frankreich weiter gestiegen. Die hohe Polizeidichte hindert die Franzosen jedoch nicht daran, sich unsicher im eigenen Land zu fühlen. Zu Recht: Die alljährlich vom Innenministerium veröffentlichte Kriminalitätsstatistik erfasst für das Jahr 2001 erstmals mehr als 4 Millionen Straftaten in Frankreich. Neben solchen Straftaten wie Einbruch und Raub, der zunehmend mit Körperverletzung einhergeht, trägt eine zunehmende Flegelhaftigkeit zur Verunsicherung der BürgerInnen bei. Jugendliche, die Métro-Sitze mit Farbe besprühen, junge Männer, die eine alte Dame vom Trottoir auf die Straße drängen, und Schüler, die einer Lehrerin den Hintern betatschen – all das ist Teil eines Phänomens: der neuen Respektlosigkeit. Dieser manque de civisme, wie er genannt wird, ist naturgemäß in keiner Statistik erfasst, wird von den Franzosen jedoch als äußerst verunsichernd empfunden.
Unsicherheit und manque de civisme gehören zweifellos zu den Hauptsorgen der Franzosen. Besonders groß sind sie dort, wo die soziale Lage am härtesten ist: in den Wohnsilos der Banlieues rund um die Großstädte. Hier leben Täter und Opfer dicht nebeneinander. Wenn hier bei Krawallen Autos in Flammen aufgehen, trifft es keine Wohlhabenden. Aber auch in den schicken innerstädtischen Quartieren und in den ländlichen Gemeinden hat das Gefühl von Unsicherheit zugenommen.
Die Zahlen weisen Frankreich zwar keineswegs als Hochburg der Kriminalität aus. Anderswo in Europa wird mehr gestohlen, sind sowohl Gewalttaten als auch Rüpeleien häufiger. Doch: Wenn sich die BürgerInnen von den Ordnungshütern im Stich gelassen fühlen, hat der Staat, an den sich der Vorwurf richtet, zu handeln. Er muss nach den Ursachen und den Akteuren der Unsicherheit forschen – und Lösungen anbieten.
Zuerst gilt es die Ursachen für die Zunahme der Unsicherheit zu analysieren und zu bekämpfen: die Stadtplanung, die soziale Ghettos geschaffen hat; der Trend auf dem Arbeitsmarkt, fast nur noch petits-boulots anzubieten (befristete Billigjobs); und die „Dezentralisierung“ des Landes, die seit zwei Jahrzehnten den lokalen Politiker deutlich mehr Macht und mehr Kontrolle über die Finanzen bescherte. Seither ist in den Regionen die Zahl der Erzieher und Sozialarbeiter radikal gesunken, während gleichzeitig Polizisten eingestellt wurden – weil sie billiger sind.
Es muss jedoch darum gehen, einen Weg zwischen sozialer und pädagogischer Betreuung von Straftätern und ihrer Bestrafung zu finden – ein richtiges Maß zwischen Integration und Ausgrenzung. Für den Umgang mit jugendlichen Straftätern hat Frankreich seit dem „Erlass von 1945“ ein großes Arsenal an gesetzlichen und institutionellen Möglichkeiten. Es reicht von der Möglichkeit, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, bis zur Einrichtung von Erziehungsheimen für straffällige Jugendliche. Viele dieser Instrumente werden heute leider nicht mehr genutzt.
Zu den politischen Maßnahmen von oben müssen die BürgerInnen stärker einbezogen werden. Der Kampf gegen die Unsicherheit und den manque de civisme ist zum Scheitern verurteilt, solange sie nicht bereit sind, wieder ein Stück mehr Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, wenn sie sich nicht stärker in die Konflikte inmischen – als Erwachsene, als Eltern, als Nachbarn und als Lehrer.
Ernsthaft an der Verbesserung der inneren Sicherheit zu arbeiten ist aufwändig, teuer und kann nur langfristig zu Erfolgen führen. Die Spitzenpolitiker haben sich gegen diesen mühsamen Weg entschieden und schlachten stattdessen das Thema populistisch aus. Als gäbe es eine Unsicherheit von „rechts“ oder von „links“, schieben sie sich gegenseitig die Schuld an der Kriminalität zu. Mittlerweile streiten sich die Kandidaten fast nur noch über die innere Sicherheit und verdrängen dabei die wirklich wichtigen, die sozialpolitischen Themen: die Zunahme der Billigjobs ebenso wie die Sicherung der Rente, die Gleichstellung im öffentlichen Dienst wie die Frage nach Frankreichs Rolle in Europa und der Welt. Statt sich damit zu befassen, versprechen die favorisierten Spitzenkandidaten, Präsident Chirac und Premier Jospin, in teils bis zur Wortwahl identischen Programmen, ein großes Ministerium für die innere Sicherheit, einen „Nationalen Sicherheitsrat“ sowie ein energischeres Vorgehen gegen Straftäter.
Das ist ein durchsichtiges Manöver, um von den anstehenden Programmdebatten abzulenken. Der berechtigten Sorge der Franzosen um die Sicherheit in ihrem Land ist es nicht angemessen. Zumal die beiden Spitzenpolitiker keine ernsthaften – und mit Zahlen über Kosten versehenen – Vorschläge machen, wie mit jugendlichen Delinquenten anders umgegangen werden könnte.
Zugleich bedienen Jospin und Chirac gefährliche Ressentiments. Indem sie die innere Sicherheit zum Hauptwahlkampfthema machen und vor allem über jugendliche Mehrfachstraftäter reden, stigmatisieren sie eine ganze Generation, die ohnehin am Rande der Gesellschaft steht. Keiner der beiden Kandidaten sagt es offen, aber alle Zuhörer verstehen, wer als Täter gemeint ist – wer also der Feind der inneren Sicherheit in Frankreich ist: junge Männer aus sozial schwachen Familien, die Bewohner der Banlieues sind und Nachfahren von Einwanderern. Die Vorwürfe sind infam, da diese Jugendlichen laut Statistik lediglich 20 Prozent der Straftäter ausmachen.
Die beiden rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Le Pen und Mégret können sich angesichts der Vorarbeit von Chirac und Jospin ins Fäustchen lachen: Denn nun müssen sich die Spitzen des Staats müssen von den Rechten den Vorwurf gefallen lassen, für die Unsicherheit im Land verantwortlich zu sein. Und sie haben keine Skrupel, ihre populistische Propaganda zu postulieren. Die Rechtsextremen ziehen eine direkte Linie von der „Unsicherheit“ zur „Einwanderung“ und sie verlangen rassistische Methoden. Die Abschiebung von „ausländischen“ Straftätern – auch wenn sie längst die französische Staatsangehörigkeit haben – gehört genauso zu ihrem Programm wie die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Der Wahlkampf gegen die Unsicherheit ist damit zu einer Kampfansage gegen die Randgruppen mutiert: Gegen die Jungen. Gegen die Armen. Gegen die Einwanderer. Und gegen die Vorstädte. DOROTHEA HAHN
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