Der Sound des Fotoautomaten

Befreiung vom Berlin-Komplex: „Triumph der Provinz“ und „Wie ich einen Hund gegessen habe“ in Jena

Mit seinen Stücken und Adaptionen ist das Theaterhaus Jena bundesweit einmalig

von FRITZ VON KLINGGRÄFF

Rom gibt es nicht mehr und die Provinz ist seitdem überall. Die Provinz, das ist per definitionem, also lateinisch gesehen, befreites Gebiet. Für Thüringen zum Beispiel ist Berlin die Provinz. In Thüringen staunen die Leute, wenn die Fernseher über Berlins Schloss-Debatte heißlaufen. Schlösser nämlich gibt’s in Thüringen genug. Aber in Thüringen regt sich trotzdem keiner über Berlin auf. Die sind da eben so frei, heißt es hier. Thüringen hat seine Schlösser und seine Theaterdebatte. Dafür gibt es in Thüringen nicht so viel Rasen mit Fotofix-Automaten. Das gibt es hier eigentlich überhaupt nicht. So was gibt es wiederum in Berlin, wo Bahnhof Zoo und Tiergarten eng beieinander liegen. Deshalb erinnert Felicia Zellers „Triumph der Provinz“ auf der Bühne im Theaterhaus Jena denn auch am ehesten an den Berliner Tiergarten: Ein Echtrasen mit Echtschaf und drei Passbildautomaten drauf: Wo gibt’s das sonst noch, wenn nicht in der Provinz, in Berlin?

Auch die acht herumlungernden Typen auf der Bühne erinnern an Berlin. Die reinste Großstadt-Typologie! Wenn Micky (Stefanie Hellmann) mit den hungrigen Augen zwischen Sömmerda und Sonneputzen die Zukunft sucht – „In Berlin, da, da ist die Action“ – dann möchte man ihr zurufen: „Hey! Berlin, hey, liegt dir zu Füßen, hey!“ So ähnlich sagt das auch der gute Frankaxel (Maximilian Grill) zu Micky. Frankaxel ist nämlich nicht nur unsterblich in Micky verliebt; er ist sowieso ziemlich emphatisch. Den Trip zur Sonne hat er schon mit der Muttermilch eingesogen und es ist nicht ganz fair von Micky, dass sie Frankaxel dann Axelfrank nennt, nur weil ihre Autorin, Felicia Zeller, das Umkehrspiel mit den Komposita so sehr liebt.

Aber die junge deutsche Autorin beherrscht das Spiel mit der Versatzsprache nun einmal ungemein. Die befreite Rede der Provinz läuft ihr wunderbar verquer durch die Tastatur: Zwischen Frankaxels atemlosen Appellen – „Hey“ –, zwischen Schills (Holger Kraft) rastloser Anmache – „So ganz allein?“ –, zwischen Mickys Sehnsuchtsrap – „Woanders wo und anderswo, wo ich, wo, wo einfach was geht, ganz konkret, das will ich!“ – und auch quer zum hysterischen Diskurs des alternden Fernsehstars Brill (Tilla Kratochwil) – „Jetzt hab ich schon wieder so eine Beule. Wie kommt jetzt schon wieder so eine Beule, jetzt wächst mir schon wieder so was raus“ – verwächst Felicia Zeller dieses Episodentheater ineinander, das Klischee und Provinzwirklichkeit zugleich ist.

In ihrer Auftragsarbeit für das Theaterhaus Jena, die Ende vergangener Woche Uraufführung hatte, macht sie das ziemlich furios. Direkt peinlich soll ihr das nachher – nämlich in der Probenrealität – gewesen sein. Doch die Versuche der Autorin, ein wenig Klischee wegzuglätten, wurden von den Jenenser Schauspielern souverän abgewehrt: Den Rhythmus der Zeller’schen „Provinz“ gibt man freiwillig nicht mehr auf. In der Regie von Claudia Bauer (und nach der Musik von Ingo Günther aus dem Off der Fixfoto-Automaten) nämlich wird der „Triumph der Provinz“ als Libretto realisiert. Die Stimmen der acht Einzelkämpfer auf ihrem einsamen Weg ins Glück sind bis in die Syntaxfetzen, die Imperative und Endlosschleifen hinein chorisch angelegt: als ein Gefangenenchor (doch vom Russenstück später!).

Aus der Tiefe der Bühne grüßt mit blöden Augen Nietzsches Schaf, das hier Michaela heißt. Wo Sprache als Gesang sich erkennt, so die Botschaft, ist keine Identität mehr – da mag der Vorhang der Fotofix-Automaten vor dem Einzelnen noch so oft fallen.

Denn auch die drei Passbildautomaten gehören nur zum Spiel. Bill, Billy, Romi oder seine Juli können darin zeitweise verschwinden – die Bühne verlassen sie auf diese Weise noch lange nicht. Abtreten kann hier keiner – weder die Figuren noch die Schauspieler. Zwei Stunden lang ist das gesamte Ensemble vom Theaterhaus Jena in die Choreografie eingearbeitet – aber so ist das nun mal in Jena: im Chor, im Leben und in der Mühle, die Theaterhaus Jena heißt, sowieso. Claudia Bauer, die Regisseurin, steht dafür längst als Synonym. Aber auch das ganze Konzept dieses Theaterhauses steht dafür ein: alles reinste Hysterie. Denn das Theaterhaus Jena ist einzigartig in Deutschland und will es auch sein. Mit lauter neuen Stücken und irren Adaptionen und trotzdem ständig ausverkauft. Ein Vorbild fürs deutsche Stadttheater. Zehn Jahre ist das Haus gerade erst alt geworden und es ist die einzige deutsche Stadtbühne, die nach der Wende neu erfunden wurde. Ein Selbstverwaltungsbetrieb ohne Kompromisse. Eine GmbH mit neun Gesellschaftern. Ein Haus mit frei ausgehandelten Tarifen. Ein Thementheater – „Triumph der Provinz“ in dieser Spielzeit – mit unbedingtem Anspruch auf Aktualität. Ein Ensemble von acht Schauspielern, 35 Mitarbeitern und einem Mini-Etat von 1,5 Millionen Euro. Ein Selbstausbeutungsbetrieb. Und ein Vorbild für die Zukunft des deutschen Stadttheaters, sagt Geschäftsführer Roman Rösener.

Drei Tage später betritt Zellers Bill, Lutz Wessel, den kleinen Bühnenkasten im Malersaal zu Jewgeni Grischkowez’ Einmannstück: „Wie ich einen Hund gegessen habe“. Auch dies ist übrigens wieder eine Erstaufführung – die deutsche Erstaufführung des autobiografischen Monologs vom sowjetischen Wehrpflichtigen, der während seiner Dienstzeit „einen Hund aß“. Doch was eigentlich nur eine russische Redewendung sein soll – nämlich die Erledigung einer Aufgabe bis zur Meisterschaft – das frisst der sowjetische Soldat hier leibhaftig in sich rein: den toten Hund. Längst ist der Dienst an der Heimatfront beendet, die Fron aber, der Hund, wird seinen Körper nicht mehr verlassen. Er schleppt dieses soldatische Hundeleben mit sich durchs übrig gebliebene Leben, lebenslang. Liebevoll kämpft Lutz Wessel um die Realisierung seiner Rolle vom armen russischen Rekruten in einem Stück über den Terror der Wehrpflicht, das auch vor der Freiwilligenarmee grausen macht. Aber so geht das nicht. Lutz Wessels Rolle vom armen Soldaten am Theaterhaus Jena bleibt nur eine Rolle. In Jena aber will man meist mehr: Da soll der Schauspieler den Hund mit Haut und Haaren fressen.