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Ungarn im Ausnahmezustand

Vor dem zweiten Durchgang bei den Parlamentswahlen ziehen die Kontrahenten alle Register. Ihre drohende Niederlage versucht die Regierungspartei Fidesz mit Denunziationen und Appellen an das Nationalgefühl der Ungarn abzuwenden

aus Budapest GERGELY MÁRTON

Eine Frau will in Budapest aus dem Bus steigen, eine andere steht ihr im Weg. „Du kommunistische Schlampe, hau ab nach Israel“, sagt die Frau. Am Mantelrevers trägt sie eine kleine Trikolore mit den ungarischen Nationalfarben rotweißgelb.

Eine Szene aus dem ungarischen Alltag zwischen den zwei Runden der Parlamentswahlen. Am diesjährigen Nationalfeiertag, dem 15. März, forderte ein regierungnaher Verein alle Ungarn auf, die das Wohl des Landes, der Nation und der Regierung wollen, bis zum Ende der Parlamentswahlen am 21. April die Trikolore zu tragen. Menschen wurden dazu benutzt, um als wandernde Litfaßsäule für die rechten Parteien Wahlkampf zu machen. Damit raubte erst mal eine politische Bewegung der Hälfte aller Ungarn ihre Identität. Die tragen keine Trikolore, wählen wohl die Sozialisten und stürzen das Land ins Verderben.

Seitdem die regierenden Rechtspopulisten den ersten Wahlgang verloren haben, greifen sie mit unbekannter Schärfe wieder an. Zwar sind die Wahlen kaum noch zu gewinnen, aber Premierminister Viktor Orbán lässt nichts unversucht. Am Tag nach der Niederlage tauchte eine E-Mail aus der Staatskanzlei auf. Dort ist zu lesen, wie die Sozialistische Partei MSZP zu diskreditieren ist. Folgende Sachverhalte sind zu verbreiten: Die Sozialisten erhöhen die Gaspreise, führen das Lehrgeld wieder ein, stoppen das Studentenkredit-Programm. „Sollte dies nicht stimmen, wird es doch jeder glauben, wenn wir es nur oft genug sagen“ – heißt es in der Mail. Die Staatskanzlei gab zu, dass der Text aus ihrem Hause stammt, dies sei jedoch eine Privataktion eines Mitarbeiters gewesen.

Am vergangenen Wochenende demonstrierte die Regierungspartei öffentlich Stärke. Nach eigenen Angaben hatten sich in Budapest zwei Millionen Menschen versammelt, um Orbán zu hören. Das Land sei in akuter Gefahr, die Sozialisten vernichteten alles, was Ungarn in den letzten vier Jahren erreicht habe, sagte der Regierungschef. Jetzt gehe es um alles oder nichts. Diese verkleideten Kommunisten seien das Urböse und wollten „dem Großkapital zur Macht verhelfen, so Orbán. Dagegen seien die Konservativen in Grunde genommen Sozialdemokraten, die sich um die einfache Bürger kümmerten. Am vergangenen Dienstag verkündete Orban seine Siegesbotschaft in der westungarischen Stadt Győr. Als Wahlkampfhelfer war auch der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl anwesend.

Böse kapitalistische Kommunisten gegen gute sozialistische Konservative. Wer blickt da noch durch? Der in Führung liegenden Opposition kommt dieser kämpferische Ton gelegen. Sie sagt: Niemand soll Angst haben, dass die nächste Regierung etwas wegnehmen würde. Der Spitzenkandidat der Sozialisten, der parteilose Bankier Péter Medgyessy sieht sich als Ministerpräsident von 10 Millionen Ungarn und nicht von zweimal 5 Millionen, wie Orbán. Diese Rechnungen verfolgen die ungarische Demokratie von Anfang an. Der erste frei gewählte Ministerpräsident des Landes, József Antall, behauptete noch 1990, er fühle sich als Premier von 15 Millionen Ungarn und damit auch aller Landsleute, die im Ausland leben. Orbán wiederholte diese Aussage beim Amtsantritt 1998.

Das Land scheint unfähig, über die Tragödie des Ersten Weltkriegs hinwegzukommen. Mit den Pariser Friedensverträgen verlor Ungarn große Landesteile und ein Drittel der ungarischen Bevölkerung. Medgyessy sprach also gleich zwei Haupttehmen seines Wahlkampfes an. Seine Familie stammt aus Siebenbürgen, er wäre der erste Premier Ungarns, der die rumänische Sprache beherrscht. Trotzdem sieht er sich in erster Linie den Staatsbürgern Ungarns verpflichtet. Überdies will er das Land wieder vereinen. Die Gräben zuschütteln und alle Menschen mehr an der momentanen Wirtschaftsstärke des Landes teilhaben lassen. „Ungarn verdient mehr“ – heißt das Leitmotiv der MSZP, denn „Ungarn gehört uns allen“.

Demgegenüber versucht die Regierungspartei Fidesz mit Nostalgie die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern ans Mutterland zu binden. Davon erhoffte sie sich ein wachsendes nationales Identitätsbewusstsein. Diese hegemoniellen Ambitionen scheinen einen Teil der Bevölkerung abgeschreckt zu haben. Da nützt es auch nichts, wenn Orbán die Sozialisten als Landesverräter beschimpft.

Zurzeit herrscht ein SMS- und elektronischer Briefkrieg in Ungarn. Die Konservativen verbreiten Horrormeldungen über die angebliche Vergangenheit der Sozialisten und über ihre zerstörerische Vorhaben. Die Anhänger der Sozialisten schlagen zurück, eine SMS vergleicht Orbán mit Hitler (Piktor und Viktor).

Orbán will eine katastrophale Niederlage verhindern. Für ihn wäre es am schlimmsten, wenn die Sozialisten im Parlament die absolute Mehrheit erreichen würden. Er mobilisiert seine Anhänger und schreckt auch nicht davor zurück, Hass gegen Andersdenkende zu schüren.

Am kommenden Sonntag entscheidet sich, wer Ungarn in den nächsten vier Jahren regieren darf. Nach dem Willen der Regierungspartei sollen die Menschen entscheiden, wem sie das Leben ihrer Familie anvertrauen würden. Vielen Ungarn ist diese Rhetorik nur allzu gut bekannt. Es ist gerade 15 Jahre her, da wollte der Chef der ungarischen kommunistischen Partei, János Kádár, auf seine Untertanen aufpassen.

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