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Abschied vom Sternenhimmel

In den vier Zelten des Zirkus Cabuwazi kann sich jedes Kind täglich selbst erproben. Noch. Das mit dem Kinder-Kulturpreis ausgezeichnete Projekt steht auf der Sparliste von SPD-Jugendsenator Böger

von ULRIKE HEIL

Höchst konzentriert schwingen Mehmet und Norman die Schnur, werfen das Diabolo in die Luft und fangen es wieder auf. Lassen die bunte Form von rechts nach links schnurren und von links nach rechts. Stundenlang. „Wir trainieren seit einem Jahr – täglich“, erklärt Mehmet mit dem Ernst eines Künstlers. Oder besser: eines Zirkusartisten. Nicht dass die beiden kleinen Jungen siebenmal pro Woche in den Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi in Alt-Treptow kommen müssten. Sie wollen es so. Und sie sind froh, dass das blaue Zirkuszelt mit dem Sternenhimmel in der Bouchéstraße täglich offen ist. Bisher. Denn Europas größter Kinder und- Jugendzirkus steht auf der Sparliste des Senats. Und bangt wie insgesamt rund 100 Jugendprojekte um sein Überleben.

Einem Familienvater mit einer Vorliebe für ganz besondere Fahrräder ist es zu verdanken, dass heute rund 650 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 17 Jahren Berliner Zirkusluft schnuppern. Er schenkte seinen beiden Kindern 1992 zwei Einräder. Gemeinsam mit anderen gründeten die drei wenig späterin einem Kreuzberger Hinterhof das „Kreuzberger Einrad-Chaos“, das auf Straßen- und Schulfesten auftrat. Mit der Zeit entwickelte sich daraus der „Chaotische Bunte Wanderzirkus“ – kurz „Cabuwazi“. Mittlerweile geben die jungen Clowns, Tänzer und Akrobaten an vier festen Standorten in Treptow, Altglienicke, Kreuzberg und Marzahn ihre Zirkusvorstellungen.

Das erste Zelt wurde 1994 in Treptow eröffnet. Zwischen beige gestrichenen Mehrfamilienhausreihen mit Grünstreifen führt eine buntes Metalltor in die Zirkuswelt von über 200 Cabuwazi-Kindern. Hier sind Denise, die kleine Seiltänzerin, Kati, die Akrobatin und Mehmet, der Diabolo-Spieler, zu Hause. „Kinder aus 16 Nationen kommen zu uns“, erklärt Sozialpädagogin Britta Niehaus, die Leiterin des Platzes, „mit ganz unterschiedlichem familiärem Hintergrund.“ Es gebe genauso das Mädchen, das einmal wöchentlich in der großen Familienkarosse vom Vater zum Tanztraining gefahren werde, wie die Jugendlichen, die in der Zirkuswelt Familienersatz suchten. „Es ist wichtig, dass das Angebot kostenlos ist“, betont Cabuwazi-Geschäftsführerin Sabine Graf. „Damit auch Kinder zu uns kommen, deren Eltern kein Interesse zeigen.“

Ziel der Cabuwazi-Mitarbeiter – eine bunte Mischung aus professionellen Artisten, Erziehern, Sozial- und Tanzpädagogen – ist es, den Kindern Selbstbewusstsein zu vermitteln. „Keiner muss begabt sein, um mitzumachen“, so das Credo von Graf. Mitbestimmen darf man sowieso. Die Kinder können selbst entscheiden, ob sie lieber auf dem Seil tanzen, am Bühnenbild werkeln oder Büroarbeiten übernehmen. Sie haben ihren eigenen Jugendwagen, verkaufen im Caféwagen „Waffeln und mehr“ und „wer sich interessiert, den nehmen wir auch zum Jugendhilfeausschuss mit“, so Niehaus.

Die jüngsten Zirkuskinder haben sich entschieden, den bevorstehenden Abschied vom geliebten Teddybären tänzerisch zu verarbeiten. „Abschied vom Kuscheltier“ nennt sich das Stück, das die kleinen Tänzerinnen gerade in der Treptower Manege proben – und dabei in dramatischer Gestik ihr geliebtes Stofftier von sich werfen. Danach sind die Älteren dran. Die Akrobatikgruppe übt für den Auftritt am Sonntag. „Machtlos“ heißt das Stück, die Idee dazu entstand bei einem Treffen der Kinder im Jugendwagen. „Das ist zwar schon ein Jahr alt, aber jetzt aktueller denn je“, meint Niehaus.

80 Kinder tummeln sich bei „Machtlos“ in der Manege und zeigen den Zuschauern ihre Alltagssorgen und Wünsche. Ob passende Musik, Glitzerkostüme oder wagemutige Pyramiden – alles haben sich die Kinder selbst ausgedacht. Teamarbeit und Rücksichtnahme sind wichtig, damit der Auftritt stimmt. Einzelauftritte gibt es nicht. „Bei uns zeigt jeder, was er kann, und nicht, was er nicht kann“, bringt Niehaus das Motto auf den Punkt. Das Gefühl, Erfolg zu haben, motiviere die Zirkuskinder ungemein – Versagensängstekennen die meisten aus Schule und Familie oft zu Genüge.

Ein schlüssiges Konzept, begeisterte Zirkuskinder, glitzernde Vorstellungen und eine Warteliste von zwei Jahren für Schulen, die Projektwochen in der Manege durchführen wollen – dafür gab es 1998 den Kinder-Kulturpreis vom Deutschen Kinderhilfswerk. „Die Ministerien fragen oft für Auftritte bei uns an und auch bei der Eröffnung des Berliner Hauses in Moskau in diesem Jahr sollen wir dabei sein“, sagt Niehaus. So richtig Lust habe man allerdings nicht dazu, „Berliner Aushängeschild zu spielen und hintenrum weggekürzt zu werden“. Der Standort in Marzahn muss vielleicht noch dieses Jahr schließen, der Kreuzberger Gruppe fehlen 23.000 Euro für das laufende Jahr und auch in Altglienicke und Treptow ist man auf Kürzungen gefasst.

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