: Kinderfreundlichkeit kann keiner kaufen
Renate Schmidt hat ein bemerkenswertes Buch zur Familienpolitik verfasst, mit zukunftsweisenden Reformansätzen zu Betreuung und Finanzierung
von WARNFRIED DETTLING
Die Parteien haben die Familien entdeckt. Und es ist diesmal wohl mehr als der übliche Lärm vor der Wahl. Denn nach 25 Jahren haben sich endlich die Folgen der demographischen Entwicklung herumgesprochen. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht die Politik zum Handeln gezwungen. Nicht länger verdrängen lässt sich auch das Ärgernis, dass in einem reichen Lande die Kinder- und Familienwünsche vieler jungen Frauen und Männer sich brechen an den Verhältnissen. Schließlich hat zur Konjunktur des Themas auch die These des Wahlkampfberaters Dick Morris beigetragen. „It’s Economy, Stupid“, hat er damals Bill Clinton erfolgreich geraten. Jetzt sieht er die „sozialdemokratische Herausforderung“ im „Übergang von Wirtschaftsthemen zu Wertvorstellungen“.
In diese Lage hinein hat Renate Schmidt ein bemerkenswertes Buch geschrieben, das aus den politischen Sachbüchern zu diesem Thema herausragt. Und das hat Gründe: Zum einen rückt sie die Familie konsequent vom Rand in die Mitte der Gesellschaftspolitik. Die Autorin führt die Debatte heraus aus den alten Schützengräben, die man ja durchaus den beiden Volksparteien zuordnen konnte. Die einen sorgen sich um die heile Familie, kümmern sich aber eher wenig um die neuen Realitäten, insbesondere um die Entfaltungswünsche junger Frauen. Die anderen sehen in der Familie vor allem, wie Schmidt nicht ohne böse Ironie notiert, „einen Ort, wo …“ allerlei Schlimmes passiert und die Menschen überhaupt an Entfaltung und Emanzipation gehindert wurden.
Geborgen und frei
Die Autorin entwirft dagegen analytisch und normativ eine komplexe Familienpolitik, die die neuen Lebenswirklichkeiten, aber auch die alten Wünsche ernst nimmt und fragt, wie die Rahmenbedingungen geändert werden müssten, damit heute und morgen Familie leichter gelebt werden kann. So entstehen Umrisse einer Familienpolitik auf der Höhe der Zeit, die den Wunsch nach Beziehung, Verlässlichkeit und Geborgenheit, das Recht auf ein eigenes Leben und die Idee der Gleichheit der Geschlechter ernst nimmt. Das ist die normative Trias, vor der Schmidt konkrete Vorschläge macht, denn sie weiß: Wer eines dieser drei Wertziele ausblendet, dürfte familienpolitisch scheitern.
So wird Familienpolitik Teil der Gesellschaftspolitik, und so werden von der Autorin auch in der Familienpolitik die Maßstäbe wieder gerade gerückt. Ihr Refrain ist immer wieder, dass Geld wichtig und notwendig ist, aber eben nicht alles. Man könnte es auch drastischer formulieren – Familien und Kinder kann man nicht kaufen. Schmidt nennt drei Säulen einer erfolgreichen Familienpolitik: die kinder- und familienfreundliche Gesellschaft, den Familienleistungsausgleich und nicht zuletzt ein quantitativ ausreichendes, qualitativ hochwertiges und flexibles Betreuungsnetzwerk. Wie sie den letzten Punkt (Betreuung) durchbuchstabiert, macht ihre Überlegungen auch innovativ und übertragbar für andere Bereiche der Politik: Die KitaCard etwa als Mittel und Weg, nicht Angebote zu subventionieren, sondern die soziale „Kaufkraft“ zu stärken, um so das Betreuungssystem sozial gerechter und responsiver zu machen, oder die Mobilisierung von freiwilligem Engagement rund um Kindergarten und Schule, um beides besser in der lokalen Gesellschaft zu verankern.
Nach der Lektüre dieses informativen, engagierten, gut lesbaren Buches, das die gesammelte Erfahrung einer Politikerin, Familien- und Berufsfrau verrät, bleiben vor allem zwei offene Fragen. Die eine betrifft das Bundesverfassungsgericht und seine Wirkungen für die Familienpolitik. Die andere fragt nach der Rolle, welche die Männer für das Gelingen oder Verschwinden von Familien spielen. Es ist offensichtlich, dass die Entscheidungen aus Karlsruhe das Thema aufgewertet und auf die Tagesordnung der Politik gesetzt haben. Weniger offensichtlich, aber folgenschwer ist die Weichenstellung, die die Verfassungsrichter vorgenommen haben. Der Grundsatz der „horizontalen Gerechtigkeit“ (Familien mit Kindern dürfen unabhängig vom Familieneinkommen nicht schlechter gestellt sein als Paare ohne Kinder) wird dazu führen, dass Milliarden in eine Richtung gelenkt werden, die zu einer Umverteilung von unten nach oben führt, aber für (viele) real existierende Familien und für die Realisierung vieler Familien- und Kinderwünsche keinerlei Unterschied macht.
Wo bleiben die Männer?
Die Präsidentin des Verfassungsgerichtes, Jutta Limbach, hat einmal angemerkt, die Politik könne dem Gericht durchaus öfter mal Gelegenheit geben, seine Entscheidungen zu überprüfen. Es ist eine Sache und Aufgabe des Gerichts, über die Verfassung zu wachen. Eine andere Sache und Aufgabe der Politik ist es, über die Mittel und Wege zu entscheiden, wie den Familien am besten geholfen werden kann. In dieser Frage haben Richter keinen Erkenntnisvorsprung.
Und wo bleiben die Männer? Renate Schmidt konnte alles, Politik, Beruf und Familie, unter einen Hut bringen, weil sie einen unterstützenden Mann hatte. Niemand weiß, wie solch positive Erfahrungen gesellschaftspolitisch zu verallgemeinern wären. Eine andere Neuerscheinung legt das ganze Dilemma offen. Wassilios E. Fthenakis, wohl der bekannteste Väterforscher im Lande, kann in einer empirischen Studie zeigen, wie stark sich das Selbstbild der Männer und insbesondere das Vaterschaftskonzept geändert haben. Die Ernährerrolle steht nicht mehr so eindeutig im Vordergrund. Andere Aspekte werden wichtiger: der Vater als Erzieher, Freund, Partner. Doch wenn es ernst wird, sieht es plötzlich anders aus. In kühlen Worten beschreibt Fthenakis eine Situation, die für viele Familien wichtiger sein dürfte als manche Transfers: „Veränderungen nach der Geburt eines Kindes betreffen einerseits die Partnerschaftsqualität. Diese sinkt im Zeitraum von vor der Geburt bis sechs Monate nach der Geburt deutlich ab. Und auch in der Zeit, bis das Kind 20 Monate alt ist, sinkt sie nochmals. Beim Übergang zur Elternschaft tritt in der Aufgabenteilung eine Traditionalisierung ein.“
Viele Familienwünsche brechen sich nicht nur an den neuen Realitäten, sondern auch an den alten Verhaltensweisen. Schmidt deutet an, woran man denken könnte, etwa ein kürzeres, aber höheres Erziehungsgeld. Doch dahin ist es ein weiter Weg.
Renate Schmidt: „S.O.S. Familie. Ohne Kinder sehen wir alt aus“, 208 Seiten, Rowohlt, Berlin 2002, 16,90 €ĽWassilios E. Fthenakis: „Die Rolle des Vaters in der Familie“, 349 Seiten, Kohlhammer, Stuttgart 2002 (Schriftenreihe des Bundesfamilienministeriums, Band 213)
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